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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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eine Szene auf dem Video, die Sarah vollkommen vergessen hatte:
    Sarah: »Wir gehen bald nach Jerusalem.«
    Wanja: »Wer ist wir?«
    Sarah: »Ich und Catherine und Alan.«
    Wanja: »Und wer noch?«
    Sarah: »William, mein Sohn.«
    Wanja, kaum hörbar: »Und ich auch?«
    Sarah erinnert sich: »Ich weiß nicht, was ich damals geantwortet habe. Die Aufnahme endet genau in dem Moment, als Wanja vor
     Anstrengung, das Unmögliche zu fragen, das Gesicht verzieht. Warum habe ich hier auf Stop gedrückt? Wollte ich so tun, als
     hätte er mich nie gefragt, ob er mit uns kommen könne, da ich mit dem Wissen nicht hätte leben können? Als die Kamera wieder
     lief, wechselte ich das Thema. ›In welchem Land lebst du?‹«
    |253| Sarah hatte sich immer ihrer Fähigkeit gerühmt, auch im Gespräch in der fremden Sprache selbst die kleinsten Feinheiten zu
     verstehen. Doch die Aufnahme belehrte sie eines Besseren: Ihr unterlief ein Verständnisfehler, der für Wanja ein Schlag ins
     Gesicht gewesen sein musste. Da er selbst keine Besitztümer hatte, faszinierte ihn die Vorstellung, dass Catherine allerlei
     Dinge besaß, die ihr auf wundersame Weise um die Welt folgten.
    »Hat Catherine ihre Spielsachen eingepackt?«, fragte er Sarah.
    »Ja. Ihre ganzen Spielsachen sind auf dem Weg nach Jerusalem.«
    »Wer hat sie mitgenommen?«
    »Erst wurden sie auf einen Lkw geladen, dann fahren sie auf einem Schiff und danach vermutlich weiter auf einem anderen Lkw.«
    Wanja dachte einen Moment lang über diese Information nach, dann platzte er mit der nächsten überraschenden Frage heraus:
     »Nehmt ihr die Nägel mit?«
    Sarah dachte, er würde fragen, ob sie die Nägel am Nachmittag wie immer mit nach Hause nähme, da sie sonst verschwinden würden.
     »Wahrscheinlich schon, sonst sind sie ja weg«, antwortete sie daher unbekümmert.
    »Wenn ich mir das Band heute ansehe, erkenne ich, dass er mir eine weitaus wichtigere Frage gestellt hat: ›Nehmt ihr die Nägel
     mit nach Jerusalem?‹ Hätte ich ihn damals richtig verstanden, hätte ich geantwortet, dass ich die Nägel für ihn bei Wika lassen
     würde. Doch so habe ich ihn dieser winzigen Spielzeugnägel beraubt, die, nach all den Verlusten, die er in so kurzer Zeit
     erlitten hatte, das Kostbarste waren, das er auf dieser Welt noch hatte – eine Erinnerung an die Zeit, als er einer von uns
     gewesen war.«
    Wanja sagte nichts, doch auf dem Video ist zu sehen, dass in diesem Moment etwas in ihm zerbrach. Er schien sich schlagartig
     wieder bewusst zu werden, dass er ein Kind aus einem Heim war, und warnte sie eifrig davor, dass ihnen Ärger mit |254| der bösen Galina drohte, weil sie ihn besuchten. Dem Personal seien seine vielen Besucher ein Dorn im Auge, da sie die Ruhe
     in Gruppe 6 störten.
    Sarah hatte einen Schokoriegel mitgebracht, und Catherine teilte ihn für Wanja und Julia in zwei Hälften. Wanja bestand darauf,
     ihn aus dem Papier zu essen, ohne die Schokolade anfassen zu müssen. »Ist es in Ordnung, wenn ich meine Kleidung schmutzig
     mache?«, fragte er besorgt. Kleckern war offenbar ein Vergehen, für das harte Strafen drohten.
    Wanja fand nun, dass es Zeit sei, die übliche Runde zum Auto zu machen, doch dafür musste er zunächst zwei Probleme lösen.
     Er musste dafür sorgen, dass Galina sie nicht anschrie, und er konnte Julia nicht allein zurücklassen.
    »Ich werde die Wachmänner um Erlaubnis fragen«, sagte er. Damit wollte er uns vor Galinas Zorn schützen. Jahre später erzählte
     er, wie Galina Julia einmal an den Haaren über den Boden geschleift hatte, weil sie in die Hose gemacht hatte.
    Obwohl ihm an diesem Tag Stück für Stück alles genommen worden war, worauf er seine Hoffnungen gesetzt hatte, verfügte er
     noch über die Kraft, daran zu denken, dass er Julia nicht zurücklassen durfte. »Wir müssen Julia mitnehmen«, verlangte er.
     »Aber du kannst sie nicht an der Hand nehmen. Du musst sie tragen. Und dann können wir zusammen im Auto sitzen.« Er ertrug
     den Gedanken nicht, sie allein zu lassen.
    »Ihr wäre schrecklich langweilig allein. Wir müssen sie mitnehmen.« Und das taten sie dann auch.
     
    Für ihren letzten Besuch am Morgen vor ihrer Abreise hatte Sarah sich eine besondere Überraschung für Wanja ausgedacht: ein
     Album mit Bildern aus seinem Leben, selbst zusammengestellt mit Fotos, die sie im Babyhaus, in Filimonki und im Krankenhaus
     von ihm gemacht hatte, und mit Aufnahmen von allen Menschen, die ihn je besucht hatten,

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