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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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was zu tun sei. Swetlana schien gewillt, Marias Anweisungen auszuführen. Am nächsten Tag rief Sarah Swetlana zu Hause an.
     Und es gab gute Neuigkeiten. Nicht ohne Stolz verkündete Swetlana, dass das Ministerium – die gleichen Frauen, die Wanjas
     Adoption so viele Steine in den Weg gelegt hatten – zugestimmt hatte, Wanja in die Hände einer Pflegefamilie zu übergeben.
     Es grenzte an ein Wunder. Der entsprechende Brief traf vier Tage später im Babyhaus ein.
    Rachel hielt sich an ihr Versprechen, mit Wanja in Kontakt zu bleiben. Sarah erinnerte sie daran, freundlich zu den Wachmännern
     zu sein und bat sie, sich bei ihnen für das Abschiedsgeschenk zu bedanken, das sie Sarah gemacht hatten: ein Band mit Gedichten.
    Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm Sarah zum ersten Mal das Buch zur Hand und las die Widmung. Es war eine zerlesene und offenbar
     geliebte Anthologie mit Gedichten von Jewtuschenko, einem in Russland sehr populären Autor, der in den 1960er Jahren ganze
     Stadien gefüllt hatte. Nur in Russland, dachte Sarah, würde ein Wachmann ein vierzig Jahre altes |260| Buch mit Gedichten verschenken. Die Widmung stammte von Witali, dem ranghöchsten Wachmann, der Sarah in seinem Übereifer einst
     verboten hatte, mit Wanja das Grundstück des Babyhauses zu verlassen. Doch dieser Witali hier war ein ganz anderer. Seine
     Worte waren freundlich und kamen von Herzen. Er bedankte sich für ihren Einsatz für behinderte russische Waisenkinder und
     lobte ihre Bemühungen, »in Zeiten der Wirtschaftskrise in Russland« eine Familie und ein besseres Leben für Wanja zu suchen.
     Während Sarah im Nahen Osten im strahlenden Sonnenschein saß und die vergilbten Buchseiten umblätterte, verspürte sie Mitgefühl
     für diese Wachmänner. Sie alle waren einst Ingenieure oder Wissenschaftler gewesen, hatten in der sowjetischen Gesellschaft
     Rang und Ansehen genossen; und nun mussten sie, ihrer beruflichen Perspektiven beraubt, in einer billigen Uniform auf dem
     Gelände des Babyhauses Dienst schieben.
    Wie sich herausstellte, bekam Rachel nicht die Möglichkeit, Sarahs Nachricht an Witali zu überbringen. Als sie am nächsten
     Tag im Babyhaus eintraf, wurde sie von einem finster dreinblickenden Wachmann begrüßt, der nicht zum Plaudern aufgelegt schien
     und ihr nur widerwillig Zutritt gewährte. Nachdem man sie eine Viertelstunde im Flur hatte warten lassen, kam eine Ärztin
     auf sie zu, die ihr mitteilte, dass ihr Besuch dem Personal äußerst ungelegen käme. Kurz darauf erschien ein schmächtiger,
     ernster kleiner Junge in Latzhose und rotem T-Shirt. Es war Wanja.
    Er starrte sie einen Moment lang an, dann rief er: »Rachel!« Seine ersten Worte waren: »Ich gehe nicht nach England.«
    Sie sagte ihm, dass sie das schon wüsste, denn sie habe George besucht, der sehr traurig gewesen sei.
    Wanja fragte Rachel, wie sein Leben in Marias Pflegeprojekt aussehen würde. Würde er einen Bruder haben? Sie erklärte ihm,
     dass er es sich wie eine große Familie vorstellen sollte. Sie spielten zusammen ein Spiel, bei dem er sie zum Spaß in einen
     Schrank sperrte und dann wegging. Es gefiel ihm, wenn Rachel so tat, als würde sie weinen. Schließlich wurde er zum |261| Essen gerufen, und sie brachte ihn zurück in seine Gruppe, wo eine mürrische junge Frau Dienst hatte, die Rachels Gruß nicht
     erwiderte. Wie immer saßen die Kinder auf ihren Stühlen wie Miniatur-Schaufensterpuppen.
    Als Sarah vor dem Computer saß und die E-Mail mit Rachels Bericht von ihrem Besuch im Babyhaus las, schien die Sonne derart
     grell durch das Fenster, dass sie aufstehen und die Fensterläden schließen musste, um die Buchstaben auf dem Bildschirm lesen
     zu können. »Ich denke, sie werden Wanja vermissen, wenn er geht«, schrieb Rachel. »Mit seiner durchdringenden Stimme, seiner
     unerschütterlichen Neugierde und seinem fröhlichen Wesen ist er ein Lichtblick in der dortigen Düsternis. Mir scheint es zwei
     Gruppen zu geben: die Tyrannen und die Tyrannisierten. Leider verspüre ich dort keine Wärme. Aber Wanja freut sich auf Maria.«
    Sarah überflog den Rest der E-Mail und konnte Rachels Schilderungen von der sich anbahnenden Krise in Moskau kaum glauben:
     Menschen, die vor verschlossenen Banktüren Schlange standen; zwei Frauen mittleren Alters, die auf offener Straße aufeinander
     einschlugen, weil sie sich um den vordersten Platz in der Schlange vor einer Wechselstube stritten. Sarah schaltete den Fernseher
     ein und

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