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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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ihm abermals die Überweisung in eine Anstalt. Ich berichtete von der Leichenhalle, die
     mitten auf dem Grundstück der Anstalt stand und nur auf das Eintreffen der Kinder wartete. Ihre Augen wurden immer größer,
     als ich ihnen das russische System schilderte, das vorsah, Kinder mit nur leichten Behinderungen in Anstalten und damit in
     den Tod zu schicken. Ich erklärte ihnen, dass Wanja die Diagnose ›schwachsinnig‹ erhalten hatte, obwohl er ein aufgewecktes,
     intelligentes Kind war, das jedem Menschen, mit dem er sprach, ein ganz besonderes Gefühl gab. Was genau ich damit meinte,
     wurde ihnen klar, als er sich selbst zu Wort meldete und ihnen Fragen stellte, die ich übersetzte. ›Ist das euer Auto?‹, fragte
     er, und wollte weiterhin wissen, wohin sie fahren und ob sie das kleine Mädchen mit zu sich nach Hause nehmen würden.
    Ich erzählte ihnen von seinem Gespür für andere Kinder – wie er Andrej gerettet hatte, indem er ihm beibrachte zu sprechen,
     wie er Elvira im Krankenhaus Mut gemacht hatte und sich wie ein Bruder um Julia sorgte. »Er verdient eine Familie«, sagte
     ich. Er hat so viel Liebe zu geben.«
    Sichtlich schockiert lauschte das Paar Sarahs Schilderungen. Als sie davonfuhren, winkte Wanja zum Abschied.
    »Als es Zeit für mich wurde zu gehen, verhielt ich mich zurückhaltend. Ich sagte, dass meine Freunde ihn weiterhin besuchen
     würden. Meine Hoffnung, dass er in Marias Projekt aufgenommen würde, verschwieg ich ihm. Er hatte bereits zu viele Enttäuschungen
     erlebt. Ich hatte mich stets bemüht, ihm eine Freundin zu sein, keine Mutter. Daher musste ich mich bei unserem Abschied zwingen,
     ihn nicht in die Arme zu schließen und festzuhalten. Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, drehte mich um und verließ
     das Babyhaus, um nach Hause zu eilen und mich weiter um den Umzug zu kümmern.«

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    |258| 21.
CANDELA
    August/September 1998
    Sarah folgte ihrem Mann im August nach Jerusalem, doch mit ihren Gedanken und Gefühlen war sie nach wie vor in Moskau. »Ich
     erinnere mich noch genau an diese ersten Wochen in Jerusalem. Ich ging mit unserem Hund, den wir aus Moskau mitgebracht hatten,
     im örtlichen Park durch die Olivenhaine spazieren und dachte dabei unentwegt an Wanja, wie er allein im Babyhaus saß. Ich
     sah meinen Kindern beim Radfahren zu, sah sie braun werden und stellte mir Wanja vor, leichenblass, vergeblich auf jemanden
     wartend, der ihn in den Garten mitnahm. Während sich meine Kinder an den Geschmack von frischem Fladenbrot und prallen schwarzen
     Oliven gewöhnten, bekam Wanja irgendeine Brühe und graues Omelett. Meine Freunde hatten mir zwar hoch und heilig versprochen,
     ihn regelmäßig zu besuchen, doch es war jederzeit möglich, dass sie einer von Adelas Launen zum Opfer fielen und aus dem Babyhaus
     geworfen wurden.«
    Sarah begann sich vorzustellen, wie es wäre, Wanja zu sich nach Jerusalem zu holen. In Moskau hatte sie derartige Gedanken
     stets verdrängt. Trotz der tiefen Zuneigung, die sie für ihn empfand, hatte sie eine Adoption nie in Betracht gezogen. Stattdessen
     hatte sie ihre ganze Kraft darauf verwandt, Maria und anderen Menschen dabei zu helfen, dass Kinder in Familien und nicht
     in staatlichen Einrichtungen aufwuchsen. Und obwohl sie sich nun weit weg von Russland befand, war sie sich dessen bewusst,
     dass sie auch weiterhin für Wanja verantwortlich war.
    Sie telefonierte täglich mit Moskau, denn es bestand nach |259| wie vor die Gefahr, dass Wanja bei einer der nächsten Einweisungen Fünfjähriger ins Internat 30 kommen würde. Jede Verzögerung
     der Papiere, die ihm die Aufnahme in Marias Projekt ermöglichten, konnte Adela dazu verleiten, doch den Weg des geringeren
     Widerstandes zu wählen. Und was Sarah aus dem Babyhaus zu hören bekam, gefiel ihr ganz und gar nicht. In einem der Gespräche
     lobte Adelas Stellvertreterin das Internat 28 als eine der besten Einrichtungen in ganz Moskau, in die Wanja ihrer Meinung
     nach perfekt passen würde.
    »Waren Sie selbst schon einmal dort?«, wollte Sarah von ihr wissen. »Vielleicht ist es dort nicht ganz so schlimm wie in den
     anderen Anstalten, aber er wäre dennoch weiterhin weggesperrt und vom Leben abgeschnitten.«
    Glücklicherweise fand sich eine Angestellte, die bereit war, sich für Wanja einzusetzen. Swetlana, die Frau, die Wanja vor
     mehr als zwei Jahren nach Filimonki gebracht hatte, berichtete eines Tages, dass Maria sie angerufen und ihr gesagt habe,
    

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