Wolkengaenger
suchte einen Nachrichtensender. Der Bericht aus Moskau zeigte verzweifelte Menschen, die um ihre Ersparnisse fürchteten
und daher die Banken stürmten. Es hatte beinahe den Anschein, als stünde eine Revolution bevor.
Während Sarah das Chaos im Fernsehen verfolgte, klingelte das Telefon. Es war Alan, der ihr mitteilte, dass ihn die Zeitung
in Moskau brauche und sein Flug bereits für den Nachmittag gebucht sei. Im ersten Moment erfasste Sarah Panik. »Wir waren
seit gerade einmal zehn Tagen in Jerusalem, und ich hatte weder Geld noch meine Aufenthaltserlaubnis. Ich war noch kein einziges
Mal mit dem Auto unterwegs gewesen – kannte den Weg zu Catherines Schule noch nicht einmal. Aber immerhin, dachte ich, war
Alan in Moskau, wenn Wanja in seine Pflegefamilie überwiesen würde.«
|262| Die Finanzkrise war
das
Thema in den Nachrichten. Russland stand am Rande des Bankrotts. Der Rubel verlor dramatisch an Wert. Die Banken hatten kein
Geld mehr und schlossen ihre Pforten. Bilder eines leergeräumten Supermarkts waren zu sehen, anscheinend hatten die Menschen
den Laden gestürmt und alles mitgenommen, was sie tragen konnten, bevor ihr Geld wertlos wurde. Wütende Rentner versammelten
sich auf den Straßen, schwenkten rote Fahnen und drohten den Betrügern, die sie um ihre Ersparnisse gebracht hatten, mit den
Fäusten. Ein schrecklicher Gedanke schoss Sarah durch den Kopf: Was, wenn Maria und ihre Pflegefamilien ebenfalls von der
Krise betroffen waren? Vielleicht würden sie gar keine neuen Kinder aufnehmen können?
Vier lange Tage quälte sich Sarah mit diesem Gedanken. Erst als Alan inmitten der sich überstürzenden Ereignisse endlich Zeit
fand, Maria aufzusuchen, erhielt sie Entwarnung. Wanjas Rettung stand nichts im Weg, in drei Tagen, am 7. September, würde
er das Babyhaus verlassen. Doch vor der Aufnahme in eine Pflegefamilie musste sich jedes Kind umfassenden ärztlichen Tests
unterziehen – so verlangte es das Ministerium. Wanja würde daher vierzig Tage im Waisenkrankenhaus Morozowskaja verbringen
müssen. Maria versprach, dass er in dieser Zeit nicht allein sein würde. Er stünde unter Aufsicht eines Arztes, der eng mit
ihrem Projekt zusammenarbeitete und den Wanja bereits kennengelernt hatte, als er Maria zum ersten Mal getroffen hatte. Währenddessen
hätte Maria Zeit, eine Pflegefamilie für ihn zu suchen.
Seit dem Beginn der Krise hatte Maria keinerlei Geld mehr erhalten, um ihren Mitarbeitern die Löhne zu zahlen. Ihr Team hatte
begonnen, Vorräte an Kartoffeln und Konserven für den Winter anzulegen. Noch beunruhigender als diese Tatsachen war allerdings
der veränderte Ton der Moskauer Behörden, die zum wiederholten Male von Maria verlangten, die Existenz ihres Programms zu
rechtfertigen. Offensichtlich war es nach Meinung der Bürokraten Zeit für dessen Einstellung.
|263| So wild entschlossen und effizient Maria ihrer Arbeit auch nachging, sie war auch eine überzeugte Christin, und die Krise
förderte nun ihre mystische Seite zutage. Sie erzählte Alan, dass sie die Krise nicht nur als ein persönliches Drama für diejenigen
verstand, die ihre Ersparnisse verloren hatten, sondern als eine Prüfung für all jene, die Gott auserkoren hatte, seinen Zwecken
zu dienen. »Wir werden abermals gezwungen, auf der Suche nach dem Land Gottes durch die Wüste zu ziehen«, sagte sie. »Nur
wenn wir diese neue Prüfung bestehen, werden wir das Neue Jerusalem erreichen.«
An Wanjas vermeintlich letztem Tag im Babyhaus besuchte Alan ihn noch einmal. Wanja war abmarschbereit, doch wie immer hatte
ihm niemand erklärt, was eigentlich passieren würde, und er hatte jede Menge Fragen.
»Bringst du mich zu Maria?«, fragte er.
»Nein. Maria kommt selbst, um dich abzuholen.«
»Werde ich wieder in ihrer Küche zu Abend essen, so wie beim letzten Mal?«
Alan atmete tief durch. »Wanja, ich muss dir etwas erklären. Du gehst nicht gleich zu Maria. Zuerst musst du noch in ein Krankenhaus.«
Wanja sah Alan konzentriert an, während er diese neue Information verarbeitete. »Du meinst ins Krankenhaus 58? Ich will nicht
noch einmal operiert werden.« Er war ganz bleich und den Tränen nahe.
»Nein, Wanja. Nicht ins Krankenhaus Nr. 58. In ein neues Krankenhaus. Es heißt Morozowskaja. Erinnerst du dich noch an den
netten Dr. Sajzew, den du bei Maria kennengelernt hast? Er arbeitet dort. Du wirst also nicht allein sein.«
Trotz dieses Schocks erkundigte sich
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