Wolkengaenger
ein paar winzige Änderungen so gut wie abgabefertig war. Wanja würde definitiv nach England gehen.
Als Sarah zurück zum Auto lief, kochte sie innerlich vor Wut. Adela hatte sich für einen ganzen Monat in die Ferien verabschiedet,
ohne irgendwelche Anweisungen bezüglich |209| Wanja zu hinterlassen. Es lag auf der Hand, was sie damit bezweckte: Das »Problem Wanja« würde sich in ihrer Abwesenheit erledigt
haben, ohne dass sie Verantwortung dafür würde tragen müssen. In den Augen des übrigen Personals war Wanja ein schwieriger
Fall, eine Belastung. Die Fortschritte, die er im Krankenhaus Nr. 58 gemacht hatte, ignorierten sie vollkommen. Sie konnten
es gar nicht abwarten, ihn endlich loszuwerden.
Zurück am Auto, fand sie Wanja hinter dem Steuer sitzend vor – offenbar hatte er Rachel bereits um den Finger gewickelt. Es
passte ihm daher gar nicht, dass er nun aussteigen und wieder durch den Schnee laufen sollte. Gereizt beschwerte er sich,
als Sarah ihn aus dem Auto holen wollte. Er hatte inzwischen gelernt, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen – zumindest, wenn
er sich in Gesellschaft von Menschen befand, die nicht zum Babyhaus gehörten.
Rachel überredete ihn auszusteigen, indem sie ihm zeigte, wie man Schneebälle formte, etwas, das er noch nie zuvor getan hatte.
Plötzlich sah Wanja Sarah ernst an: »Gehe ich nach England?«
»Ja.«
»Und ich muss nicht wieder hierher zurück?«
Er hatte keine Vorstellung, was England überhaupt war, doch er hielt es für etwas Besseres als das, was er hier durchlebte.
Die Tüten mit den Kleiderspenden lagen im Schnee herum, und Wanja bestand darauf, beim Reintragen zu helfen. Er wollte alles
tun, um zu zeigen, dass er zu den Besucherinnen gehörte.
Zurück in Wanjas Gruppe, ließ Dusja die beiden Frauen mit den Kindern allein. Sie hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen,
da brach in dem Zimmer das Chaos aus. Kopflos rannten die Kinder durcheinander und rissen Spielsachen aus den Regalen. Als
sie hörten, dass Dusja zurückkam, rannten sie wie der Blitz zurück zu ihren Stühlen und setzten sich |210| ordentlich hin. Sie hatten offensichtlich große Angst vor ihrer Betreuerin. Dusja brachte den Kindern das Mittagessen, ein
graues Irgendwas mit Erbsen. Dazu gab es ein winziges Stückchen Brot. Wanja bat Sarah, ihn zur Toilette zu bringen, wo sie
entsetzt feststellen musste, wie abgemagert er war. Er brauchte ordentliche Nahrung, um zu wachsen.
»Es war erstaunlich, wie viel Kampfgeist in Wanja steckte und wie wortgewandt er geworden war«, erinnert sich Sarah, wenn
sie an diesen Tag zurückdenkt. »Wie gern hätte ich ihn mit zu uns nach Hause genommen und ihm ein fürstliches Mahl serviert.«
Zwei Wochen später, es war der 20. April, ereignete sich etwas, das Sarahs schlimmste Befürchtungen in Bezug auf Grigoris
Verhältnis zu den Mitarbeiterinnen des Ministeriums bestätigte. Er rief bei Sarah an, um sie zu bitten, ihm bei der Lösung
eines Problems zu helfen, das es mit einem der russischen Dokumente gab: Voraussetzung für eine Auslandsadoption war, dass
das betreffende Kind zuvor sechs Monate im Adoptionsverzeichnis geführt worden war, um so zunächst einer russischen Familie
die Möglichkeit zu geben, es zu sich zu nehmen. Nun sollte das Ministerium eine entsprechende Bestätigung über Wanjas Registrierung
in dem Verzeichnis ausstellen – eine Routineangelegenheit.
»Im Schnitt dauert es etwa zwei Wochen, bis das Ministerium auf die Anfrage reagiert«, sagte Grigori. »Könnten Sie dort anrufen
und darum bitten, die Sache etwas schneller abzuwickeln? Andernfalls zieht sich das Ganze bis weiß Gott wann hin – bis zum
Beginn der dreimonatigen Ferien im Mai.«
»Können Sie das nicht selbst erledigen?«
»Besser, Sie übernehmen das«, entschied Grigori. »Sagen Sie einfach, Sie seien eine Verwandte von Linda, eine Cousine oder
so etwas.«
»Eine Cousine, die sich zufälligerweise in Moskau aufhält?«
Linda Fletcher und ihre Familie wurden für Mai in Moskau erwartet. Dann würden sie auch das neue Dossier mitbringen, |211| und sollte Grigori bis dahin das besagte Dokument in den Händen halten, bestünde eine – wenn auch verschwindend geringe –
Chance, dass die Adoption während ihres Aufenthalts abgeschlossen werden konnte.
Als Sarah im Ministerium anrief, schien die Frau am anderen Ende der Leitung über Wanjas Fall Bescheid zu wissen. Vielleicht
waren diese Bürokraten ja doch
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