Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Barock bis Klassik
die ihre guten Vorsätze und scheinbaren Lebenseinsichten unablässig unterlaufen. Besonders eindringlich schildert Defoe diese Gebrochenheit in dem unentschiedenen Pendeln zwischen spiritueller Zerknirschung und geldgieriger Amoralität, das die Hauptfigur in dem drei Jahre nach »Robinson Crusoe« erschienenen Roman »Moll Flanders« kennzeichnet. Das Buch ist von Defoe angelegt als selbst verfasster Lebensbericht einer gewissen Moll Flanders, »die in Newgate zur Welt kam und in einem wechselvollen Leben von sechzig Jahren, ihre Kindheit nicht mitgerechnet, zwölf Jahre als Dirne lebte, fünfmal verheiratet war (davon einmal mit ihrem eigenen Bruder), zwölf Jahre als Diebin sich herumtrieb und acht Jahre als Strafgefangene nach Virginia verbannt war, die zuletzt aber reich wurde, ehrbar lebte und bußfertig starb«. Dieser auf dem Buchvorsatz angekündigte Handlungsverlauf wird in einer episodenreichen, verwickelten Erzählung entfaltet, die der Protagonistin hinlänglich Gelegenheit bietet, ihre hinterlistige Kunstfertigkeit als Diebin ausgiebig zu kommentieren und ihren tief sitzenden Kummer angesichts der eigenen Verworfenheit beredt zu beklagen. Ihrer Reue aber und der häufig verkündeten Bereitschaft, ihren Lebenswandel grundlegend zu ändern, fehlt es an Überzeugungskraft, da ihre Bußfertigkeit im Ringen mit übermäßiger Geldgier und unbändiger Lebenslust allzu oft zu kurz kommt.
REPRÄSENTANT EINES ZEITALTERS
Mit seiner minutiösen, auf der empirischen Philosophie John Lockes aufbauenden Wirklichkeitsdarstellung legte Defoe den Grundstein für den bürgerlichen Roman des Realismus. Bald schon erfassten Interpreten Defoes repräsentativen Wert. Anhand seiner verwickelten Biografie und unglaublichen publizistischen Produktivität lässt sich ein vielschichtiges Zeitbild der englischen Geschichte in den Jahrzehnten um 1700 entwerfen. Der um seinen ausgesprochen heiklen Status als Gentleman bemühte mittelmäßige Geschäftsmann, mehrmalige Gefängnisinsasse, Spion und erfolgreiche Schriftsteller Defoe selbst taugt zum Repräsentanten der Zeit ebenso wie eine Vielzahl seiner Romanfiguren, in denen allgemeine gesellschaftliche, wirtschaftliche und religiöse Entwicklungen der Jahrhundertwende exemplarisch verdichtet werden. In der kaum zu überblickenden Fülle seiner Abhandlungen zu so vielfältigen Themen wie Geistererscheinungen, Teufels- und Höllenvorstellungen, der Geschichte der Magie, des Handels oder der Piraterie kommen grundlegende Zeittendenzen zum Ausdruck. Daneben hat sich Defoe einen Namen gemacht als unermüdlicher Aufzeichner der ihn umgebenden Lebenswirklichkeit, selbst wenn er über die bei Vielschreibern nicht ungewöhnliche Gabe verfügte, eigene Eindrücke mit Angelesenem geschickt zu verschränken. Hierbei ist nicht nur das 1722 erschienene fiktive Journal über das grausige Londoner Pestjahr 1665 zu nennen, sondern vor allem seine umfängliche Landesbeschreibung der Britischen Inseln aus den Jahren 1724 bis 1726 hervorzuheben, in deren Zentrum Defoes faktenreiche und dennoch anschauliche Schilderung seiner Heimatstadt London steht.
WICHTIGE WERKE DEFOES
»Essay über Projekte«, 1697
»Der waschechte Engländer«, Verssatire, 1701
»Robinson Crusoe«, Roman, 1719
»Kapitän Singleton«, Roman, 1720
»Moll Flanders«, Roman, 1722
»Colonel Jack«, Roman, 1722
»Die Pest zu London«, Roman, 1722
»Roxana«, Roman, 1724
Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass Defoe in diesen Reisebeschreibungen seine Bewunderung für die Errungenschaften seiner Zeit mit einem feinen Gespür für die Fragilität menschlicher Leistungen verbindet. Neben seinen Darstellungen blühender Landschaften und wachsender Städte finden sich immer wieder Hinweise auf bauliche Ruinen und Schauplätze des Niedergangs. Bereits in seiner ersten als Buch veröffentlichten Publikation, dem »Essay über Projekte« aus dem Jahr 1697, kommt dieser Sinn für die Verluste einer wirtschaftlich und gesellschaftlich dynamischen Welt zum Ausdruck – nicht zuletzt in einem Abschnitt über finanzielle Bankrotte.
Kurz vor seinem Tod holten auch Defoe die wirtschaftlichen Sünden seiner Vergangenheit wieder ein, als eine hartnäckige Gläubigerin ihn mit alten Schuldscheinen konfrontierte, deren Begleichung er nicht belegen konnte. Noch einmal musste Defoe untertauchen. Am 26. April 1731 starb der Ahnherr des neueren englischen Romans vermutlich infolge eines Schlaganfalls.
JOHANN GOTTFRIED HERDER
WEGBEREITER
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