Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
so groß«, sie
deutete die Länge mit den Händen an. »Viel war ja nicht drin. Handy, Geld, Schlüssel,
ein Kalender. Claudine lebte bescheiden.«
»Wie sieht der Rucksack aus?«
»Schwarz mit grauen und roten Karos. Wir
haben ihn im Kaffeegeschäft in der Spremberger Straße gekauft. Er gefiel ihr so
gut.« Wieder liefen die Tränen. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg.
»Frau Treschker, wir brauchen die Heimatadresse
Ihrer Nichte und vielleicht eine Telefonnummer, unter der wir ihre Eltern erreichen
können«, erinnerte Nachtigall.
Claudine Caros Tante seufzte schwer, erhob
sich schwerfällig und nahm von einem Regalbrett Papier und Bleistift.
»Hier«, sie reichte den beiden Beamten das
Blatt, »aber wie gesagt, ich fürchte, so einfach wird es nicht sein, dort jemanden
zu erreichen. Es gibt einen alten Mann im Dorf, der spricht Deutsch. Es ist nicht
leicht durchzukommen. Die unterste Nummer ist die eines Polizeipostens. Vielleicht
gibt es bei Ihnen einen Kollegen, der gut Französisch spricht? Es ist so entsetzlich.
Bestimmt können sie nicht kommen, um Claudine abzuholen – das ist zu kompliziert
–, aber irgendwie muss sie nach Hause zurück.«
Nachtigall zuckte mit den Schultern. »Ich
weiß auch nicht, wie das funktioniert. Das Beste wäre sicher, sich bei einem Bestattungsunternehmer
zu erkundigen. Es wird auch noch eine Weile dauern, bis die Gerichtsmedizin die
Leiche freigibt«, erklärte er dann.
Frau Treschker schwieg.
»Unsere Ermittlungen haben zu Hinweisen
geführt, die darauf hindeuten, dass Claudine sich vor etwas oder jemandem gefürchtet
hat. Können Sie uns dazu etwas erzählen?«
Erregt fuhr sie herum und funkelte Nachtigall
zornig an.
»Das glaube ich nicht. Claudine hatte das
Herz einer Löwin. Feigheit war ihr fremd. Sie kannte keine Furcht.«
»In ihrem Zimmer haben wir Abwehrzauber
gefunden. Überall«, widersprach Nachtigall.
»Ach das!« Die Tante machte eine wegwerfende
Handbewegung, mit der sie um ein Haar die Teekanne vom Tisch gewischt hätte. »Nicht
weiter ernst zu nehmen. Meine Schwester hat das Mädchen ganz verrückt gemacht. Sie
schickte ihr ständig neue Beutel, und als brave Tochter hängte Claudine sie auch
tatsächlich auf. Sie trug auch ein Amulett mit dem Zeichen Ezilies, der Göttin der
Liebe und Schönheit. Ihrer Mutter zuliebe zog sie es auf einen Schnürsenkel und
legte es um. Aber daran geglaubt hat sie nicht. Natürlich nicht.«
Wieder entstand ein unangenehmes Schweigen.
»Wie sieht das Zeichen von Ezilie aus? Können
Sie uns das Amulett aufzeichnen – wir haben es bisher noch nicht gefunden.«
Frau Treschker zeichnete ein Bild unter
die Heimadresse Claudine Caros.
Ein kariertes Herz, das von einem Schwert
durchbohrt wurde.
»Es handelt sich eindeutig um Voodoo-Schutzzauber.
Quaggas und Schutzkerzen mit Carneol, die nach Voodoo-Schutzöl riechen. Hatte Claudine
wirklich keine Angst vor Dämonen?«
Der Stimmungswechsel kam so abrupt, dass
weder Nachtigall noch Skorubski darauf vorbereitet waren. Mit einem Satz war die
stattliche Frau aufgesprungen und schrie die beiden Männer an: »Raus! Los! Raus
hier! Sie sind auch nicht besser, als diese Typen von der Ausländerbehörde. Ihr
glaubt, Schwarze sind dumm – so dumm, dass sie an Geister glauben, die aus dem Jenseits
kommen und unsere Kinder töten.«
Rasch rappelten sich die Ermittler vom Sofa
auf und wurden von der zornbebenden und gefährlich fauchenden Madeleine Treschker
in den Flur gedrängt.
»Bevor ihr mir so einen Quatsch einreden
könnt, kümmert euch lieber um eure deutschen bösen Geister! Die erschlagen schwarze
Frauen. Eure Geister lauern rechts.«
14
»Was haben wir?«, eröffnete Peter Nachtigall wie üblich
die abendliche Besprechungsrunde.
»Das Opfer ist nun eindeutig identifiziert.
Claudine Caro. Der Name und das Foto stimmen mit den Angaben auf dem Antragsformular
bei der Ausländerbehörde überein.«
»So etwas hab’ ich noch nie erlebt – ihre
Tante hat sie identifiziert – sehr dramatisch. Die Situation ist natürlich furchtbar.
Bestimmt hat sie sich dafür eing’setzt, dass ihre Nichte in Deutschland studiere’
konnte, und nun muss sie ihrer Schwester so eine Nachricht übermitteln. Hu!« Michael
Wiener schauderte.
Nachtigall griff zu einem Pappstreifen und
notierte ›Tatwerkzeug‹ darauf. Dann pinnte er den Streifen zu den Tatortfotos.
»Tatwaffe war ein Schwert, eine Machete
oder etwas Ähnliches mit langer schmaler Klinge. Der mächtige Hieb
Weitere Kostenlose Bücher