Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
geringste Vorstellung
von ihm. Später, als man ihn fasste, passten viele zuvor unerklärbare Details der
Tathandlung zu seiner Persönlichkeitsstruktur – man hatte das nur nicht erkannt.«
»Wie furchtbar. Wie lang ist das her?«
»Sehr lange. Er war damals noch ein Kind.«
»Er ist ein netter junger Mann – und er
liebt Jule wirklich sehr«, Connys Zunge war schon schwer, sie gähnte.
»Ja. Davon bin ich überzeugt. Du liebe Güte!
Wenn er wenigstens einmal nicht ganz perfekt wäre. Einmal ein Kaffeefleck auf dem
Hemd oder ein Anflug von Bartstoppeln zu sehen wäre. Nie!«
»Du bist nur neidisch«, murmelte sie schlaftrunken.
»Conny? Ich habe eine tolle Idee.«
»Hm?«
»Wir heiraten vor den Kindern.«
»Warum? Wir können uns doch Zeit lassen.«
»Nein! Es fühlt sich einfach besser an,
verheiratet zu sein.«
38
Heide Fischer strich ihre schwarze Bluse auf dem Bügelbrett
glatt und schaltete den Fernseher ein.
Die schwarzen Jeans lagen schon über der
Stuhllehne, die Schuhe glänzten poliert, der Mantel hing frisch gebürstet am Schlafzimmerschrank.
Claudine würde man wohl nicht in Deutschland
beisetzen, überlegte sie, während sie mit dem fauchenden Bügeleisen über die Knopfleiste
fuhr. Bestimmt hatte die Familie die Absicht, sie zu Hause neben ihren Verwandten
zu beerdigen, sonst konnten sie nur selten am Grab stehen und mit Claudine Zwiesprache
halten. Heide schniefte. Falls es ihr je gelang, das Geld für eine so weite Reise
zusammenzusparen, konnte sie ja irgendwann einmal hinfahren und ihre Freundin dort
besuchen.
Claudine hatte ihr von dem strengen Ahnenkult
erzählt, der den Anhängern des Voodoo auferlegt war. So mussten die Toten regelmäßig
besucht und beschenkt werden. Wie sollte die Familie von Claudine das bewerkstelligen,
wenn ihr Grab im Ausland läge?
Ordentlich zog sie den Blusenärmel glatt
und bügelte darüber.
Claudine allerdings hätte eine Heimkehr
sicher nicht gewünscht. Nun konnte sie sich nicht mehr wehren. Ein Testament gab
es bestimmt auch nicht. Wer dachte denn in dem Alter schon an den Tod?
Heide versuchte sich zu erinnern, was Claudine
über Beisetzungsrituale im Voodoo erzählt hatte. Existierten da überhaupt welche?
Es fiel ihr nicht mehr ein.
Meist sprachen sie über Claudines Zukunft
– manchmal auch über Heides vergebliche Bemühungen um Männerkontakte. Ein Lächeln
hellte ihre traurige Miene auf. Ja, Claudine hätte jeden haben können, wäre sie
nur etwas zugänglicher gewesen. Aber sie wollte eben nicht. Suchte sich ausgerechnet
diesen Langweiler Meinert aus.
Heide presst die Lippen zu einem dünnen
Strich zusammen, und ihr Blick wurde hart.
Meinert Hagen!
Immer wieder hatte sie versucht, ihrer Freundin
die Augen zu öffnen. Ein Streber, blass, ohne Charisma. Der würde auch in 30 Jahren
noch besessen arbeiten, sähe ungesund aus und hätte noch immer die Ausstrahlung
eines im Winterteich erfrorenen Goldfischs. Und Claudine würde viel zu spät bemerken,
wie Sonne und Farbe auch aus ihrer Welt verschwanden, wenn sie selbst genauso unauffällig
geworden war.
Mit einem zornigen Ruck riss sie den Stecker
aus der Dose und stellte das Bügeleisen zum Abkühlen aufs Fensterbrett.
Ihr eigenes Leben, wurde Heide schmerzlich
bewusst, verlor durch den Verlust der Freundin ebenfalls an Farbe. Claudine konnte
so amüsant sein, so spritzig, originell und lebhaft.
Einfach unvergleichlich.
Tränen liefen heiß über ihre Wangen.
Sie wischte sie mit dem Handrücken weg und
nestelte an der Hosentasche, um ein schon feuchtes Taschentuch für die laufende
Nase herauszuziehen.
Für morgen würde sie mehrere Päckchen einstecken.
Dann beschloss sie, die Hose zu probieren
und zu überprüfen, wie ihr die Zusammenstellung stehen würde. Claudine sollte zufrieden
mit ihrer Wahl sein.
Rasch schlüpfte sie in die Jeans, legte
sich auf die Couch und stemmte das Becken hoch. Ächzend schloss sie den Reißverschluss.
Als sie sich vor dem Spiegel in Positur
stellte, konnte sie es kaum fassen: Selbst diese Hose saß schon wieder so eng, dass
sich oberhalb des Bundes ein ansehnliches Fettwürstchen aufgeschoben hatte. Unzufrieden
grunzend, dachte sie an die Pommes, die sie gestern gegessen hatte. Mit Mayo! Auch
kleine Sünden ruinierten auf Dauer die Figur. Sie seufzte tief.
Dann zog sie rasch die Bluse über.
Zufrieden drehte sie sich um die eigene
Achse, kontrollierte Vorder- und Rückansicht. Von den hässlichen Röllchen war nichts
mehr zu sehen.
Und
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