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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Situation glücklich sein könne, aber manchmal glaube er, man sei es.
    Als er mir das erzählte, sagte er: »Ich glaube, es war die Gesellschaft, die ich genossen habe. Bis dahin bin ich immer viel allein gewesen. Sie waren vielleicht nicht das Gelbe vom Ei, aber sie gehörten zu den feinsten Kerlen, die ich je kennengelernt habe.«
    Er erzählte mir auch, dass er nicht lange, nachdem er in der Gießerei angefangen hatte, eines Abends gegen Mitternacht mit der Arbeit fertig war und feststellte, dass ein mächtiger Schneesturm tobte. Die Straßen waren unpassierbar, und der Schnee wehte so schnell und dicht, dass die Schneepflüge nicht vor dem Morgen ausfahren würden. Er musste das Auto stehen lassen – selbst wenn er es freischaufelte, konnte er sich damit nicht auf die Straßen wagen. Er machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Es war eine Entfernung von etwa zwei Meilen. Das Gehen fiel ihm in dem frisch gefallenen Schnee schwer, und der Wind blies ihm aus West entgegen. Er hatte an dem Abend etliche Fußböden geputzt und gewöhnte sich gerade erst an die Arbeit. Er trug einen schweren Mantel, einen Militärmantel, den ihm einer unserer Nachbarn gegeben hatte, der nach seiner Heimkehr aus dem Krieg keine Verwendung mehr dafür hatte. Mein Vater zog ihn auch nicht oft an. Meistens trug er eine Windjacke. Er muss ihn an dem Abend übergezogen haben, weil die Temperatur unter die übliche Winterkälte gefallen war und es im Auto keine Heizung gab.
    Er kämpfte gegen den Sturm an, fühlte sich von dem Mantel niedergezogen, und ungefähr eine viertel Meile von zu Hause fort merkte er, dass er nicht mehr vorankam. Er stand mitten in einer Schneewehe und konnte die Beine nicht bewegen. Der Wind warf ihn fast um. Er war am Ende seiner Kräfte. Er dachte, vielleicht wird mir gleich das Herz versagen. Er dachte an seinen Tod.
    Er würde sterben und eine kranke, behinderte Frau zurücklassen, die nicht einmal für sich selbst sorgen konnte, eine alte Mutter voller Enttäuschung, eine jüngere Tochter, deren Gesundheit immer zart gewesen war, eine ältere Tochter, die kräftig und aufgeweckt genug war, die aber oft ichbezogen wirkte und rätselhaft ungeschickt, und einen Sohn, der versprach, intelligent und zuverlässig zu werden, der aber noch ein kleiner Junge war. Er würde mit Schulden sterben und noch bevor er die Käfige abgerissen hatte. Sie würden dort stehen – schlaffer Maschendraht an den Pfosten aus Zedern, die er im Sommer 1927 im Austins-Sumpf gefällt hatte, um den Zusammenbruch seines Unternehmens zu bezeugen.
    »War das alles, woran du gedacht hast?«, fragte ich, als er mir das erzählte.
    »War das nicht genug?«, sagte er und erzählte weiter, wie er erst das eine Bein aus dem Schnee zog und dann das andere: er stieg aus der Schneewehe, und dann kamen Schneewehen, die nicht mehr so tief waren, und bald war er hinter dem Windschutz der Föhren, die er selbst in dem Jahr gepflanzt hatte, in dem ich geboren wurde. Er gelangte nach Hause.
    Aber ich hatte gemeint, dachte er nicht an sich selbst, an den Jungen, der entlang des Blyth-Baches Fallen aufgestellt hatte und der in ein Geschäft gegangen war und kandiertes Papier verlangt hatte, kämpfte er nicht für sich selbst? Ich meinte, war sein Leben damals etwas, wofür nur noch andere Menschen Verwendung hatten?
     
    Mein Vater sagte immer, er sei erst richtig erwachsen geworden, als er in die Fabrik arbeiten ging. Er wollte nie über die Fuchsfarm oder das Pelzgeschäft reden, erst als er alt war und fast über alles reden konnte. Aber meine Mutter, eingemauert von fortschreitender Lähmung, erinnerte sich immer gern an das Pine Tree Hotel, an die Freunde dort und an das Geld, das sie verdient hatte.
    Und auf meinen Vater wartete, wie sich herausstellte, noch eine andere Beschäftigung. Ich rede nicht von seiner Putenzucht, die nach seiner Arbeit in der Gießerei kam und dauerte, bis er über siebzig war, und die seinem Herz geschadet haben mag, denn er musste Vögel von über fünfzig Pfund Gewicht überwältigen und herumschleppen. Erst nachdem er solche Arbeiten aufgegeben hatte, wandte er sich dem Schreiben zu. Er begann, Erinnerungen aufzuschreiben und einige davon zu Geschichten zu formen, die in einer ausgezeichneten, wenn auch kurzlebigen regionalen Zeitschrift veröffentlicht wurden. Und kurz vor seinem Tod vollendete er einen Roman über das Leben der Siedler mit dem Titel
Die Macgregors
.
    Er erzählte mir, das Schreiben habe ihn überrascht. Er

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