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langlebig ist. Ich erteilte meinem Verehrer eine Abfuhr, und
da er nicht zu der hartnäckigen Sorte zählte, zog er ziemlich enttäuscht ab, so
unglücklich, daß er mir sogar etwas leid tat. Eigentlich konnte ich ihm nicht
böse sein. „ Un homme est un homme,
c’est naturel en somme “, wie es in dem Chanson heißt. Ich lächelte
und lief damit Gefahr, den nächsten Mann zu ermuntern, der mir über den Weg
lief. Da ich gerade mit dem Varieté zu tun hatte, war es nur angemessen, meine
Stimmung oder die kleinen Erlebnisse mit einer Zeile aus einem Chanson
auszudrücken. Passend zum Milieu. Ich summte vor mich hin. Die Pflicht rief.
Also trennte ich mich von der Passage Brady und ging den Faubourg Saint-Denis
hinauf, wo noch immer der allmorgendliche Markttrubel herrschte. Plötzlich
hörte ich auf zu summen. Dieses Lied gehörte nicht zum Repertoire von Gil
Andréa. Ich mußte mich hüten, es im Club zu trällern. Sofort würde ich zur
Verräterin gestempelt. Todsicher! Mein Gott, gehörte es zur Pflicht jeder
organisierten Verehrerin, sämtliche Erfolge von Gil Andréa auswendig zu lernen
und zu singen? Zum Teufel mit dem Quatsch! Ich stand vor dem Clubeingang.
Gleich würden sie mich anglotzen.
Einem bescheidenen Schild an
der Eingangstür zufolge befanden sich die Räume in der ersten von drei Etagen.
Das Gebäude war das größte in diesem Teil der Passage du Désir. Außer einem
Bistro und einem Beerdigungsinstitut waren dort hauptsächlich Läden von
Handwerkern. Ein Schuhmacher im Erdgeschoß hatte einfach so auf sein
Schaufenster geschrieben, daß er auf Absätze von Damenschuhen spezialisiert
war. Höhe nach Wunsch. Einige Modelle waren ausgestellt. Ich hoffte, Nestor
Burma würde nie persönlich in den Club gehen. Ich kenne meinen Chef. Er wäre
imstande, hier ein Paar Stelzen zu bestellen und sie mir dann zu Neujahr zu
schenken. Solch ein Geschenk hatte ich schon einmal bekommen. Vielleicht ist
das Fetischismus, aber er mag hohe Absätze. Dafür hat er eine Schwäche, das
kann man wohl sagen. „Aber in den Schuhen kann ich nie gehen“, hatte ich
protestiert. „Ich kann nicht mal drauf stehen.“ Er hatte geantwortet, solche Schuhe
seien auch nicht dafür da, um stehenzubleiben. Ich hatte die Unschuld vom Lande
gespielt, war aber trotzdem rot geworden. Manchmal schauspielere ich auch ein
wenig. Jedenfalls mußte ich verhindern, daß der unmoralische Detektiv hier in
diese Gegend kam und das Schild des Schusters sah, der bestimmt keine
Ähnlichkeit mit dem bei Francis Lemarque hatte — sieh an, wieder ein Lied, das
zur Situation paßte. Ich mußte mich also gründlich mit diesem Club beschäftigen
und soviel wie möglich herausbekommen. Und die Moral von der Geschieht: Liebe
Hélène, drück dich nicht!
Ich ging nach oben.
Es waren ehemalige
Geschäftsräume, die man für den Gil-Andréa-Fanclub umgebaut und eingerichtet
hatte. Plakate und Fotos des Idols schmückten den Flur. Derselbe Bilderkult beherrschte
auch, wie ich kurz darauf feststellen konnte, das Zimmer nebenan, den
eigentlichen Clubraum, aus dem das wilde Gänsegeschnatter kam. Als ich in den
Flur kam, saß dort eine Frau an einem Tisch voller Papierkram. Sie sah aus wie
eine Putzfrau, die sich in Schale geschmissen hat. Außer ihr standen noch drei
junge Frauen herum, nichts Besonderes, was ihr Aussehen, ihr Benehmen und ihre
Kleidung betraf. Ich lächelte freundlich in die Runde. Sie lächelten flüchtig
zurück und setzten ihre Unterhaltung fort. Ich ging auf die Putzfrau zu.
„Guten Tag, Madame“, sagte ich.
„Ich habe gestern mit Mademoiselle Adrienne Froment wegen der
Aufnahmeformalitäten telefoniert. Ich sollte heute kommen. Könnte ich zu ihr?“
Ich nannte meinen Namen.
„Adrienne kommt heute erst sehr
spät“, antwortete sie. „Ich vertrete sie solange. Ich bin Mademoiselle
Gabrielle. Sie möchten unserem Club beitreten, meine Liebe?“
Sie lächelte mich an. Die
Verehrung für Gil Andréa nahm viel Zeit in Anspruch. Da blieb für den Zahnarzt
keine mehr. Aber ich fragte mich, wie sie den Sänger verführen wollte?
Vielleicht hatte sie ihre Hoffnungen auch schon lange zu Grabe getragen. Oder
aber ihr Idol litt an Geschmacksverirrung. Also wirklich, wo war ich da
hineingeraten? Na ja, Geheimnis eines gebrochenen Herzens.
„Ja“, sagte ich.
„Das ist sehr schön, meine
Liebe. Hier haben Sie eine Karte. Füllen Sie sie bitte aus. Dies ist die Zeile
für ihren Clubnamen. Haben Sie schon eine Idee?“
„Für den
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