Wuestenmond
Stunden nach; wehten die Passat-Winde, konnten zwei, drei, ja sogar fünf Tage vergehen.
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»Wenn die Chance eins zu fünf steht…«, sagte Enrique.
Es gefiel keinem von uns, auf halbem Weg festzusitzen. Trotzdem durften wir die Warnung nicht ignorieren. Der Sandsturm, glaubte Adil, würde sich erst am späten Vormittag richtig erheben.
»Zu warten bringt uns auch nicht weiter«, sagte Rocco. Wir tauschten Blicke. »Was meinst du?« fragte ich Adil und scheuchte einige hartnäckige Fliegen weg.
»Das mußt du wissen, Madame.« Adil zeigte sich nicht gerade begeistert, hatte jedoch ein kleines Lächeln um die Lippen.
»Inch’Allah!« setzte er hinzu. »Wir besitzen nichts als unsere Haut.«
Enrique schüttete den letzten Tropfen Kaffee in hohem Bogen weg und klopfte sich den Sand von seiner schwarzen Leinenjacke.
»Na, dann aber los!«
Wir brachen das Lager ab und ließen die Motoren an. Thuy fuhr den zweiten Wagen. Sie fuhr gut, wendig und geschickt. Die Sonne ging auf, aber der Himmel schimmerte matt, einsame Wolken trieben wie Baumwollflocken am Himmel dahin. Die fahle Sonne schoß unsichtbare Pfeile herab, und die Temperatur im Wagen stieg. Alle Farben waren ausgelöscht, die Wüste bestand aus sich endlos weit erstreckenden Schichten blassen Gesteins. Die graugelbe Fläche vermittelte ein Gefühl der Betäubung. Noch vier Stunden, meinte Rocco, der Adil am Steuer abgelöst hatte: »Eigentlich sollten wir den Sandsturm schon haben, aber so sicher scheint es damit doch nicht zu sein.«
Adil warf ihm einen beinahe ärgerlichen Blick zu.
»Der Sandsturm kommt bestimmt, Monsieur.«
Ich sagte zu Rocco: »Darauf kannst du Gift nehmen«, und tauschte einen Blick mit Adil. Wir waren beide unruhig und gespannt.
»Nun, wir werden sehen«, meinte Rocco. »Auf jeden Fall sind wir gut vorwärtsgekommen.«
Er fuhr schnell; Adil, neben ihm, behielt aufmerksam den Boden im Auge. Es ging auf und ab, die Piste schlängelte sich zwischen den Steinen entlang. Manchmal verschwand sie vollständig, aber Adil fand die Markierungen stets wieder. Plötzlich wies Adil mit dem Finger hinaus.
»Labas, Madame, der Sandsturm!«
Man sah ihn genau kommen. Ganz plötzlich verfärbte sich der Himmel, die Kugel der Sonne tauchte in den Dunst. Schon fegten die ersten Sandwolken in Schwaden heran, glitten über den Boden, wie Rauch. An beiden Seiten der Piste flatterten die Sträucher wie 103
verrückt; abgerissene Zweige kamen, wie von Händen geworfen, in ganzen Büscheln geflogen. Bald übertönte tiefes, anhaltendes Röhren alle anderen Geräusche. Die flimmernde Luft begann zu knistern, zu vibrieren. Der Motor kochte. Ich berührte versehentlich die metallene Rückenlehne des Landrovers und holte mir beinahe einen Schlag. Adil war es offensichtlich nicht wohl bei der Sache.
»Halten Sie lieber an, Monsieur. Jetzt wird es gefährlich.«
»Das bißchen Wind!« sagte Rocco.
»Sei nicht leichtsinnig!« warnte ich ihn.
Rocco fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Ich biß die Zähne zusammen.
»Ich hätte ein besseres Gefühl, wenn du anhalten würdest.«
Rocco blieb stur. Ein paar Kilometer, meinte er, konnten wir wohl noch fahren.
»Aber warum so schnell? Verflucht noch mal, das ist doch purer Blödsinn!«
Rocco hatte seinen eigenen Kopf. Seine Fahrweise war ausgesprochen riskant. Adil sagte nichts mehr dazu, aber man sah ihm an, daß er sich nur schwer zurückhielt. Ich wurde allmählich ungehalten. Aufhören sollte er, und zwar sofort! Wir riskieren gar nichts, er sei schon vorsichtig, beruhigte mich Rocco und raste, weil Thuy, die in einigem Abstand folgte, genauso fuhr. Und Thuy raste im Glauben, daß aus irgendeinem Grund gerast werden mußte. Die Wagen brausten über die sandgepeitschte Ebene. Es kam, wie es kommen mußte: Plötzlich lag dicht vor uns eine hellweiße Sanddüne, aus der Schwaden sich wie Dampf erhoben. Zum Bremsen war es zu spät. Was nutzte es, daß Rocco in letzter Sekunde den Fuß vom Gas nahm und das Steuer herumriß? Der Landrover schoß in die Sandverwehung, schwankte mit knirschenden Reifen hin und her.
Rocco, Adil und ich wurden gegen die Windschutzscheibe geschleudert. Es gab ein Krachen, Rumpeln und Poltern, ein neuer Schlag, und dann noch einmal ein Krachen. Wir saßen fest. Ich richtete mich auf und rieb mir wütend die schmerzende Schulter.
»Idiot!« schrie ich Rocco an.
»Schon gut!« keuchte er. »Nichts passiert?«
Adil saß zusammengesunken, stöhnte und hielt sich
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