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Wuestenmond

Wuestenmond

Titel: Wuestenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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in einem seltsamen Knoten geknüpft. Elias zog daran, und der Knoten löste sich. Das Schweigen hier war tief; wir hörten unsere Atemzüge; selbst das dumpfe Geräusch unserer Schritte war störend. Mit einem Mal erweiterte sich der Stollen und mündete in eine Höhle. Sie war nicht stockfinster, sondern von Dämmerlicht erfüllt, das durch Löcher in der Felswand drang. Die Lichtstrahlen hingen im Helldunkel wie feiner Nebel. Elias gab uns ein Zeichen zu warten.
    Auf dem Boden lag Wurzelholz, das er vermutlich schon vorher herbeigeschafft hatte. Er entnahm seiner Brusttasche ein Feuerzeug, zündete das Holz an. Der Rauch stieg empor und strebte auf jede Öffnung zu, machte aber gleich wieder kehrt, als werde er durch die Luft von draußen zurückgetrieben, so daß wir husten mußten. Elias ergriff einen längeren Stock, hielt ihn wie eine Fackel über seinen Kopf. Das Feuer erleuchtete die Grotte mit einem Schlag von unten.
    Wir erstarrten, blickten in den Raum voller tanzender Schatten. Die Wände waren mit Bildern bedeckt, das Flakkern war überall, immer neue kamen zum Vorschein. Wir hatten wenig übrig für hinreißende Phantasien, aber das hatten wir nicht erwartet. Der Anblick machte uns sprachlos. Die vor Wind und Licht geschützten Farben hatten ihre volle Leuchtkraft bewahrt. Die ganze Höhle war ein überdimensionales Bilderbuch. Männer mit Bogen und Speer kreisten ein verwundetes Nashorn ein, dem das Blut aus beiden Nasenlöchern flöß. Ein Rudel Gazellen floh, ein Leopard lauerte auf einem Baum. Jäger zogen Löwenmähnen auf die Spitzen ihrer Lanzen. Anmutig schritt eine Frau mit geschultertem Köcher durch das Gras. Sie trug einen Lendenschurz, mit vielen Muscheln verziert, und hohe weiße Gamaschen. Ihr Haar war im Nacken zu einem achtförmigen Knoten gebunden. Das Flackerlicht schlug höher, noch andere Bilder wurden sichtbar: tanzende Frauen, Haar und Kleider und Schmuck schwingend; ihre Brüste waren nackt, um ihre ausgestreckten Hände ringelten sich Schlangen. Männer, geschmeidig wie Athleten, kamen vom Fischfang heim. Galeeren mit dunkelblauen Segeln glitten zwischen aufragenden Klippen, und dahinter standen Bauten wie Türme, vier oder fünf Stockwerke hoch.
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    Die größte Figur nahm fast ein Viertel der Felswand ein. Sie zeigte einen Widder, der über seinen Hörnern den Sonnenspiegel trug. Die Malerei war äußerst genau, nahezu akademisch ausgeführt, und wie von blassem Gold überströmt. Als das Licht sie traf, schien der Spiegel zu glühen. Alle Bilder waren schnörkellos und archaisch, nach unseren Begriffen sogar modern. Ich war ganz kühl, und doch nahm ich eine unfaßbare, bewegungslose Stille wahr. Jeglicher Zynismus versagte: Dies hier war etwas absolut Neues. Jeder von uns spürte das.
    »Kannst du uns sagen, Elias, wie alt die Bilder sind?« brach Enrique endlich das Schweigen, und seine Worte hallten. Elias’ Antwort kam ruhig und sicher.
    »Ungefähr dreißigtausend Jahre.«
    Enrique pfiff durch die Zähne.
    »Das sind Ölfarben! Und sie zeigen nicht einmal Sprünge.«
    Rocco furchte die Stirn.
    »Ja, was ist daran so besonders?«
    Enrique hatte viel Geduld mit Rocco.
    »Stell dir vor; Leonardo da Vincis Abendmahl war nach fünfhundert Jahren schon fast völlig zerstört. Man hat es restauriert. Findest du das Ergebnis überwältigend?«
    Erneut standen wir schweigend da, bis Serge sagte:
    »Möchte mal wissen, womit sie die Höhle beleuchtet haben.«
    »Mit Fackeln?« fragte Thuy.
    »Kaum möglich«, erwiderte Serge. »Da müßte Ruß in dicken Schichten an den Wänden kleben. Und hier ist kein Ruß. Was meinst du, Elias?«
    Elias antwortete, als ob ihn die Frage wenig berührte.
    »Wir wissen es nicht. Es ist auch wohl gar nicht mehr so wichtig, denke ich.«
    Ich hielt das unruhig flackernde Licht über den Kopf; sein Blick war merkwürdig scharf und doch so, als sähe er Serge gar nicht, als wäre dieser nur ein Punkt im Raum. Enrique fuhr fort, die Bilder ganz genau zu betrachten, und trat plötzlich einen Schritt zurück.
    »Es ist eigenartig«, stellte er fest, »jede Sequenz hat ihren eigenen Stil. Als ob man sie in verschiedenen Zeitepochen gemalt hätte.«
    Ich dachte im stillen: Was ist das, Kunst? Eine besondere Art von Intelligenz? Oder Visionen, die lebendig wurden?
    »Rein theoretisch ist das nicht unmöglich«, sagte ich.
    Enrique lachte leise.
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    »Wissenschaftler würden deswegen Dispute austragen. Ich kenne das. Mein Bruder gehört zu der

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