Wuestenmond
Elias?‹
›Von hier kann ich nichts sehen.‹
›Bist du nicht bereit, oder willst du nicht? Sitz gerade!‹
Mein Atem wurde weicher. Ich spürte ein leichtes Schwindelgefühl.
›Ja, so ist besser‹, sagte Amenena. ›Wir gehen jetzt.‹ Schon war ich draußen. Ich sah ein Tal, aber ich wußte nicht, welches Tal es war.
Im Schatten der Zelte saßen junge Frauen. Sie schminken ihre Augen schwarz, ihre Lippen blau. Sie schmücken sich mit schwerem Silber, mit Muscheln und mit Karneol. Jetzt traten sie aus den Zelten. Wie schön sie waren!
›Wohin gehen sie, Mutter?‹
›Zum Tendi – zum Fest.‹
›Darf ich mitkommen?‹
›Nimm meine Hand!‹
Von diesem Punkt an konnte ich nicht mehr sprechen. Ich nahm Amenenas Hand, und augenblicklich waren wir in einem ausgetrockneten Flußbett, irgendwo in der Nähe des Lagers. Die Frauen waren schon da. Ihre Gewänder leuchteten wie 203
Schmetterlingsflügel und knisterten wie der Wind. Sie hatten keinen Tendi, keine richtige Trommel. Nur einen Benzinkanister, aber das machte nichts. Sie schlugen den alten Rhythmus und riefen die Männer: ›Kommt zu uns, kommt zum Fest!‹ Körperlos, wie ich war, konnte ich alles sehen, was geschah. Wie die Männer ihre Schwerter gürteten, sich in den Sattel schwangen. Anfangs waren sie nur eine kleine Schar. Sie riefen den Frauen zu: ›Hier sind wir!‹ und jagten ihre Kamele im Trab. Jetzt kamen immer mehr, aus allen Himmelsrichtungen, ließen ihre Mehara um die Sängerinnen kreisen.
Es sah wunderbar aus. Die Frauen sangen, klatschten in die Hände; sie lobten die Schönheit der Männer und rühmten ihren Mut. Sie übertönten alle Stimmen, die selbstherrlich zum Gebet befahlen, verwandelten sie in Kakophonie. Es kreischte und wimmerte – dann plötzlich Stille. Sämtliche Lautsprecher schwiegen. Stromausfall.
Kurzschluß. Genau das, was ich mir gewünscht hatte. Amenena drückte meine Hand.
›Wie gefällt dir das?‹
›Da kommen noch mehr!‹ rief ich.
Alle Felsen, alle Dünen, belebten sich. Die Vorfahren standen aus dem Sand auf, schwarz verhüllt, mit Schildern aus Antilopenhaut.
Sie kamen aus Zeit und Raum, die Kel Rela, die Dag Rali, die Aguhen-Tele, die Iforas, die Ait Loaien, die Iregenaten. Die Gewänder der Frauen bedeckten das Flußbett wie blaue Wasserwirbel. Bald waren alle da, die Lebenden und die Toten, in einem großen Kreis vereint.
›Jetzt!‹ flüsterte Amenena.
Mein Traum wurde stärker, deutlicher, nahezu kristallklar. Die ganze Wüste bebte. Ein gewaltiges Poltern und Dröhnen erfüllte die Luft.
Alle Moscheen zerbrachen in Stücke, die Türme stürzten ein. Und aus den Staubwolken stiegen befreite Geister empor, schwärmten über die Wüste.«
Elias schwieg; sein Blick glitt an mir vorbei ins Leere. In meinen Gefühlen herrschte Aufruhr. Mit mir war wahrhaft Unbegreifliches vorgegangen: Das, was Elias mir soeben erzählt hatte, war nicht real.
Aber durch Zuhören wird man automatisch Teil des Geschehens, und irgendwie gehörte diese Geschichte auch zu mir. Dies war etwas, das ich mit Hilfe meiner Vernunft weder begreifen noch akzeptieren konnte.
»Wer hat diese Geschichte erfunden?« fragte ich. Er lächelte.
»Amenena, denke ich. Aber wenn ein Mensch im Traum durch einen 204
Garten geht und man ihm als Zeichen, daß er dort gewesen ist, eine Blume gibt und er beim Erwachen diese Blume in seiner Hand findet… was dann? Als Kind lebte ich von diesen Geschichten.
Irgendwann trat eine Realität hervor, von der ich wußte, daß sie vorhanden war, und die uns mächtig aufrüttelte, um uns ihr eigenes Leben, ihre Gegenwart zu zeigen. Und ganz allmählich, siehst du, begann ich daran zu glauben. Wer etwas nachdrücklich genug erreichen will, kann es immer erlangen…«
»Und später?« fragte ich.
»Später habe ich plötzlich zu zweifeln begonnen. Nicht nur mein Körper, auch mein Geist war gleichsam krank. Aber ich hatte in meiner Kindheit genug Kräfte gesammelt. Die ›Menschen der Ziffern und des Siebes‹ würden mich niemals zähmen.«
Ich runzelte die Stirn.
»Wer sind die ›Menschen der Ziffern und des Siebes‹, Elias?«
»Alle jene, die das menschliche Verhalten zu normen versuchen, die Volkszählungen durchführen, alle Dinge in Kategorien einteilen, unseren Geist hinter Gitter verbannen. Für uns ist der Geist eine feine Flamme, ein Gesang, der zu den Sternen führt. Die Muslime beschuldigen uns des Kufr, der Weigerung, Allahs Worte zu hören.
Das ist eine Todsünde.
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