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. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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umgebracht hätte, weil sie ihn haßte.«
    »Warum denn dann? Welches andere Motiv hätte sie denn haben können?« Es war eine einfache Frage, die eine einfache Antwort verdient hatte, aber Morse begann mit einer weitschweifigen Grundsatzerläuterung.
    »Mit dem Begriff ›Motiv‹ habe ich manchmal Schwierigkeiten, Lewis. Das klingt immer, als gebe es nur dieses eine große und schöne Motiv. Aber mitunter sind die Zusammenhänge verwickelter. Nehmen Sie eine Mutter, die ihr Kind ins Gesicht schlägt, weil es nicht aufhört zu weinen. Warum tut sie das? Man kann natürlich sagen, sie will, daß es endlich still ist. Aber das stimmt nicht wirklich, oder? Das Motiv liegt tiefer. Es steht in Verbindung mit vielen anderen Dingen: Sie ist müde, hat Kopfschmerzen, hat alles satt, die Rolle der ewig liebevollen Mutter hängt ihr mal wieder zum Hals raus. Alles, was Sie sich denken können. Wenn man erst einmal anfängt, in der unzugänglichen Tiefe dessen, was Aristoteles die ›unmittelbare Ursache‹ nannte, nachzubohren … Wissen Sie etwas über Aristoteles, Lewis?«
    »Ich habe von ihm gehört. Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«
    »Ja, das stimmt. Betrachten wir also zunächst einmal Valeries Situation an jenem Tag. Zum erstenmal seit zwei Jahren ist sie allein und auf sich gestellt. Acum wird sie, seit sie in Wales zusammenleben, sicher sehr behütet und vor allem dafür gesorgt haben, daß sie nicht gleich in einen Strudel gesellschaftlicher Aktivitäten hineingeriet. Denn dann bestünde für sie eine viel zu große Gefahr, vielleicht doch zufällig von irgend jemandem erkannt zu werden. Sie ist also die meiste Zeit zu Hause gewesen. Und sie bleicht sich die Haare, um so der echten Mrs. Acum ähnlicher zu werden. Vielleicht hat David Acum sie auch darum gebeten, wie auch immer, er wird froh darüber gewesen sein. Erinnern Sie sich an das Foto von Valerie in der Farbbeilage der Sunday T i mes ? Wenn er das gesehen hat, muß es ihm ganz schön Kopfschmerzen gemacht haben. Es war keine besonders gute Aufnahme und auch schon ziemlich alt – das Bild muß vor etwa drei Jahren gemacht worden sein –, und gerade bei jungen Mädchen ändert sich das Aussehen noch stark, vor allem, wenn sie sich von einer Schülerin in eine Hausfrau verwandeln. Aber trotzdem, es bleibt eine Aufnahme von Valerie, nach der man sie möglicherweise hätte erkennen können, und deshalb wird er froh gewesen sein über die Haare, weil sie noch zusätzlich eine starke Veränderung bewirken. Und soweit wir wissen, ist ja auch niemandem die Ähnlichkeit zwischen Valerie Taylor und der angeblichen Mrs. Acum aufgefallen.«
    »Vielleicht gibt es in Wales keine Sunday Times ?«
    Trotz aller seiner antiwalisischen Vorurteile mochte Morse dem nicht zustimmen. »Sie ist also, wie wir schon gesagt haben, allein und kann tun, was ihr gefällt. Vermutlich genießt sie die Freiheit, aber nicht nur das, sie nutzt sie auch, um etwas zu tun, was ihr normalerweise nicht möglich gewesen wäre.«
    »Das habe ich ja schon alles längst verstanden, Sir. Aber warum ? Das interessiert mich.«
    »Lewis! Jetzt versetzen Sie sich doch einmal in die Lage, in der sich Valerie, ihre Mutter, Acum, Phillipson und weiß Gott wie viele andere Leute noch befunden haben müssen. Sie alle haben ihre Geheimnisse – manchmal banale, manchmal schwerwiegende – und einen gibt es, der alle diese Geheimnisse kennt. Mr. Baines. Irgendwie hat er ein Talent gehabt, Dinge herauszubekommen. Sein Büro mit dem Telefon und der eingehenden Post ist eine Art Nervenzentrum für diese kleine Gemeinschaft, die Roger-Bacon-Gesamtschule heißt. Er ist stellvertretender Direktor, so daß es gar nicht auffallt, daß er sich um alles kümmert. Und er hält die Ohren auf und registriert jedes noch so kleine Gerücht. Die vielen großen und kleinen Verfehlungen verschafften ihm genau das, was seine kranke Seele brauchte – Macht. Bleiben wir mal eine Minute bei Phillipson. Baines konnte, wenn er wollte, jeden Tag dafür sorgen, daß er seine Stelle verlor. Aber genau das tat er eben nicht. Weil er es viel mehr genoß, die Leute in Angst zu halten …«
    »Aber er hat Phillipson erpreßt, oder?«
    »Ja. Aber auf das Geld kam es ihm dabei erst in zweiter Linie an. Die Tatsache, daß jemand zahlen mußte, weil er ihn in der Hand hatte – das war ihm wichtig.«
    »Ich verstehe«, murmelte Lewis, obwohl ihm die Abgründe der Bainesschen Psyche in Wahrheit unverständlich waren.
    »Und

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