Wurzeln
geschenkt bekommen hatte. Seine wenigen anderen Kleidungsstücke waren schon verbrannt, denn wer die hinterlassenen Kleider eines Toten trug, so sagte Bell zu Kunta, würde bald ebenfalls sterben. Dann band Cato die Leiche auf einem breiten Brett fest, das er an beiden Enden mit der Axt spitz zulaufend behauen hatte.
Kurze Zeit später kam Masser Waller mit seiner großen schwarzen Bibel aus dem Haus und schloß sich den Leuten aus dem Sklavenquartier an, die mit eigenartig gemessenem, steifem Schritt hinter dem Maultierkarren, auf dem der Leichnam lag, hergingen. Dabei erklang ein Singsang, wie ihn Kunta noch nie vernommen hatte: »Morgenlicht, ich komm zu dir, meinem Jesus will ich singen – hosianna, dideldei! … Morgen werd ich auferstehn, o mein Jesus, hosianna, dideldei!« So sangen sie auf dem ganzen Weg bis zum Sklavenfriedhof weiter, um den sonst alle, wie Kunta bemerkt hatte, einen weiten Bogen machten, aus Furcht vor etwas, was sie »Geister« und »Gespenster« nannten, vermutlich so etwas Ähnliches wie seine afrikanischen Dämonen. Auch sein Volk mied Begräbnisstätten, aber aus Ehrerbietung gegen die Toten, deren Ruhe nicht gestört werden sollte, nicht aus Angst.
Als Masser Waller sich auf einer Seite des Grabes hinstellte und seine Sklaven auf der anderen, fing die alte Tante Sukey mit einem Gebet an. Dann sang eine junge Feldarbeiterin namens Pearl ein trauriges Lied: »Eile heim, o müde Seele … Horch, der Himmel selber spricht … Eile heim, o müde Seele … Sündenfrei ins ew’ge Licht …« Und dann sprach Masser Waller: »Josephus, du warst ein guter und getreuer Diener. Gott sei deiner Seele gnädig und gebe dir Frieden. Amen.« Kunta war, mitten in seinem Gram, verblüfft zu hören, daß der alte Gärtner vom Masser »Josephus« genannt worden war. Er fragte sich, wie wohl sein richtiger Name gelautet hatte – der seiner afrikanischen Väter – und welchem Stamm sie angehört hatten. Ob der Gärtner es selbst gewußt hatte? Höchstwahrscheinlich war er gestorben, ohne je zu wissen, wer er in Wahrheit war. Mit tränenverschleierten Augen sahen Kunta und die anderen zu, wie Cato und sein Helfer den alten Mann in die Erde senkten, auf der er so viele Jahre lang seine Pflanzen gezogen hatte. Als die Lehmklumpen von der Schaufel auf sein Gesicht und seine Brust niederfielen, mußte Kunta krampfhaft schlucken und die Tränen zurückdrängen, während die Frauen ringsum weinten und die Männer sich räusperten und schneuzten.
Kunta stellte sich vor, wie die Familie und die nächsten Freunde eines Menschen, der in Juffure starb, laut wehklagten und sich in ihren Hütten in Asche wälzten, während alle übrigen Dörfler draußen tanzten, denn die Afrikaner glauben, es könne kein Leid ohne Freude, keinen Tod ohne Leben geben, sondern nur einen ewigen Kreislauf, den Kuntas eigener Vater ihm erklärt hatte, als die geliebte Großmutter Yaisa gestorben war. Er erinnerte sich, daß Omoro ihm geboten hatte: »Hör jetzt auf zu weinen, Kunta«, denn, so hatte er hinzugefügt, Yaisa hatte sich nur einer anderen der drei Menschengruppen angeschlossen, die es in jedem Dorf gab: eine, die wieder zu Allah gegangen war, die zweite, die noch lebte, und die dritte, die erst geboren werden mußte. Kunta dachte einen Moment, er sollte versuchen, es Bell zu erklären, aber er wußte gleich, daß sie ihn doch nicht verstehen würde. Sein Herz sank – bis ihm im nächsten Augenblick einfiel, daß dies eines der vielen Dinge war, die er Kizzy eines Tages über das Heimatland erzählen würde, auch wenn sie es nie zu sehen bekam.
Kapitel 72
Der Tod des Gärtners lastete Kunta weiter so schwer auf der Seele, daß Bell schließlich eines Abends, als Kizzy schon im Bett war, etwas dazu sagte.
»Also hör mal, Kunta, ich weiß, wie gern du den Gärtner gehabt hast, aber wird’s jetzt nicht langsam Zeit, daß du dich zusammenreißt und dich wieder um die Lebendigen kümmerst?« Er starrte sie nur an. »Meinetwegen mach, was du willst. Aber für Kizzy wird’s kein besonderer zweiter Geburtstag nächsten Sonntag, wenn du weiter so rumhängst.«
»Ich häng nicht rum«, sagte Kunta steif. Hoffentlich merkte Bell nicht, daß er Kizzys Geburtstag glatt vergessen hatte.
Nun blieben ihm noch fünf Tage, um ihr ein Geschenk zu basteln, und bis Donnerstag abend hatte er eine schöne Mandinka-Puppe geschnitzt. Er rieb sie mit Leinöl und Lampenruß ein und polierte sie, bis sie glänzte wie die Ebenholzschnitzereien
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