Wurzeln
sein. Er sah offen in Kuntas Augen und hielt seinem Blick stand. »Nein, Sörr.« Er zögerte. »Aber wenn ich nach Norden komm, krieg ich Arbeit und kauf sie frei.« Wieder eine Pause. »Ihr sagt ihr noch nichts, oder?«
Nun zögerte Kunta. Dann antwortete er: »Das müßt ihr beide unter euch abmachen.«
»Ich sag ihr schon beizeiten Bescheid«, versprach Noah.
Kunta ergriff die Hand des jungen Mannes unwillkürlich mit beiden Händen. »Hoffentlich gelingt es dir.«
»Wir sehn uns wieder!« sagte Noah, drehte sich um und ging zum Sklavenquartier zurück.
Als die Familie an diesem Abend im Wohnraum der Hütte zusammensaß, starrte Kunta so geistesabwesend in die schwache Glut des Hickoryfeuers, daß Bell und Kizzy aus langer Erfahrung wußten, jeder Versuch, mit ihm zu plaudern, würde jetzt zwecklos sein. Bell schwieg und strickte. Kizzy saß wie üblich über den Tisch gebeugt und übte Schönschrift. Bei Sonnenaufgang wollte Kunta Allah in seinem Gebet um Glück für Noah bitten. Das aber schloß unausweichlich den Gedanken ein, daß Kizzys vertrauensvoller Kinderglaube, der schon von Missy Anne so schwer erschüttert worden war, noch einmal und dann endgültig vernichtet werden konnte Kunta sah auf und betrachtete das gesenkte Gesicht seiner geliebten Kizzy, deren Lippen sich stumm bewegten, während ihr Zeigefinger den Zeilen folgte. Das Leben aller Schwarzen im toubob- Land schien vorwiegend aus Leiden zu bestehen, und er wünschte nichts sehnlicher, als ihr etwas davon ersparen zu können.
Kapitel 83
Eine Woche nach Kizzys sechzehntem Geburtstag, frühmorgens am ersten Oktobermontag, sammelten sich die Feldsklaven wie immer zum Abmarsch, als jemand ungeduldig rief: »Wo bleibt denn Noah?« Kunta, der zufällig in der Nähe stand und mit Cato sprach, wußte sofort, daß Noah geflohen war. Er sah neugierige Frauengesichter im Hintergrund auftauchen, darunter das von Kizzy, das mühsam einen unbeteiligten Ausdruck zu wahren suchte. Ihre Augen trafen sich – und sie blickte beiseite.
»Ich dacht, er war schon lange mit dir draußen«, sagte Noahs Mutter Ada zu Cato.
»Nein, aber ich werd ihm die Leviten lesen fürs Verschlafen!« knurrte Cato. Dann trommelte er an die geschlossene Tür der Hütte, die früher von dem alten Gärtner bewohnt worden war und die Noah kürzlich zu seinem achtzehnten Geburtstag geerbt hatte. Da alles still blieb, riß Cato ärgerlich die Tür auf, brüllte »Nooaaah!« und stampfte hinein. Er kam mit besorgter Miene wieder heraus. »Sieht ihm nicht ähnlich«, murmelte er vor sich hin. Dann beauftragte er die anderen, rasch alle Hütten zu durchsuchen, auch den Abtritt, die Speicher und Schuppen, die Felder.
Während die anderen sich in alle Richtungen verteilten, übernahm Kunta die Scheune. »Noah! Noooaaah!« schrie er mehrmals und jedesmal lauter, um den äußeren Schein zu wahren, obwohl er wußte, daß es sinnlos war. Die Pferde in ihren Boxen hörten auf, ihr Morgenfutter zu kauen, und sahen sich verwundert nach ihm um. Nachdem er sich mit einem vorsichtigen Blick aus der Tür vergewissert hatte, daß im Moment niemand in der Nähe war, kletterte er hastig auf den Heuboden, um sich niederzuwerfen und Allah – schon zum zweitenmal an diesem Morgen – anzuflehen, daß Noah wohlbehalten davonkommen möge.
Cato schickte beunruhigt den Rest der Feldsklaven an die Arbeit, er und der Fiedler wollten in Kürze nachkommen. Der Fiedler hatte sich, seit ihm nichts mehr am Geldverdienen lag und er auch nur noch selten zum Tanz aufspielte, klugerweise als Aushilfe bei der Feldarbeit angeboten.
»Ich glaub, der ist abgehauen«, murmelte er jetzt Kunta zu, als sie noch mit Bell zusammen im Hof standen.
Da Kunta nur brummte, sagte Bell: »Er hat doch noch nie gefehlt. Und nachts schleicht er sich auch nicht weg.«
Cato sprach aus, was in diesem Moment alle Gemüter bewegte. »Gott steh uns bei, einer muß es dem Masser sagen!« Nach kurzer, eiliger Beratung empfahl Bell, dem Masser nicht schon vor dem Frühstück damit zu kommen, »falls der Junge bloß irgendwo gebummelt hat und sich nicht nach Hause traut, eh’s wieder dunkel wird, sonst schnappen ihn die Pattroller …«.
Bell trug dem Masser zum Frühstück alles auf, was er am liebsten mochte: eingemachte Pfirsiche in dicker Sahne, Rührei und hickorygeräucherten Bratspeck, heiße Apfelgrütze mit Buttermilchbiskuits, und wagte erst zu reden, nachdem sie ihm zum Abschluß noch eine Tasse Kaffee eingeschenkt
Weitere Kostenlose Bücher