Wurzeln
denn?«
»Was redest du da?« Er blickte den Jungen strafend an. »Wer hat dir gesagt, daß du mich das fragen sollst?«
»Niemand. Ich frag ja nur.«
Der Junge sagte wohl die Wahrheit, und Hühner-George antwortete: »Arbeite nirgends nicht. Ich bin frei.«
Der Junge zögerte. »Opa, was ist denn frei?«
Hühner-George kam sich lächerlich vor, wie er da stand und sich von einem Kind ausfragen ließ. Er war drauf und dran, einfach wegzugehen, aber dann dachte er an das, was Matilda ihm über diesen Jungen anvertraut hatte. »Er scheint recht anfällig zu sein, vielleicht ist er auch im Kopf nicht ganz richtig. Nächstes Mal, wenn du ihn siehst, schau dir bloß mal an, wie er die Leute anstarrt.« Als Hühner-George sich umwandte und Uriah ins Gesicht sah, wußte er, was Matilda meinte. Der Junge erweckte den Eindruck körperlicher Schwäche, und seine großen Augen hafteten trotz ihres Blinkerns fest auf Hühner-George und schienen jede seiner Bewegungen zu registrieren. George fühlte sich unbehaglich. Der Junge wiederholte seine Frage. »Was ist denn frei?«
»Frei heißt, daß du niemand nicht mehr gehörst.« Er hatte das Gefühl, zu den Augen zu sprechen. Der Kleine begann von neuem.
»Mammy sagt, du kämpfst mit Hühnern. Wie machst du denn das?«
Hühner-George hatte bereits eine spöttische Antwort auf der Zunge, dann sah er das ernsthafte, seltsame Gesicht eines sehr kleinen Jungen, und plötzlich regte sich etwas in ihm – Enkelkind.
Er betrachtete prüfend Uriahs Gesicht und sagte sich, daß er ihm eigentlich etwas Angemesseneres sagen sollte. Schließlich fragte er: »Hat deine Mammy oder sonst wer dir schon mal erzählt, wo du herkommst?«
»Was? Wo ich herkomme?« Man hatte es ihm noch nicht erzählt. Das sah Hühner-George. Oder man hatte es ihm schlecht erzählt, und er konnte sich nicht mehr daran erinnern.
»Komm mal mit, Junge.«
Jetzt hatte er endlich auch etwas zu tun. Von Uriah gefolgt, ging Hühner-George zur Hütte, die er mit Matilda teilte. »Jetzt setz dich mal auf den Stuhl da und laß die Fragerei sein. Setz dich hin und hör gut zu, was ich dir erzähle.«
»Ja, Opa.«
»Dein Pappy ist bei mir und deiner Oma Tilda geboren.« Er schaute den Jungen an. »Verstehst du das?«
»Mein Pappy ist euer Junge.«
»Richtig. Du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst. Und meine Mammy, die heißt Kizzy. Die ist also deine Urgroßmammy. Oma Kizzy. Sag das mal.«
»Ja, Opa. Oma Kizzy.«
»Gut. Und ihre Mammy heißt Bell.«
Er sah den Jungen an.
»Heißt Bell.«
Hühner-George brummte. »Gut. Und Kizzys Pappy heißt Kunta Kinte.«
»Kunta Kinte.«
»Richtig. Also der und Bell sind deine Ururgroßeltern –«
Fast eine Stunde später kam Matilda ganz aufgeregt in die Hütte gelaufen, weil sie den kleinen Uriah nirgends hatte finden können. Sie sah ihn dort, wie er gehorsam Worte wie »Kunta Kinte« und »ko« und »Kamby Bolongo« nachsprach. Nun nahm sie sich Zeit, setzte sich dazu und lauschte entzückt, wie Hühner-George ihrem begeistert zuhörenden Enkel die Geschichte seines afrikanischen Ururgroßvaters erzählte, der nicht weit von seinem Dorf entfernt Holz schlagen wollte, um sich eine Trommel zu machen, und der dann von vier Männern überwältigt und in die Sklaverei verschleppt wurde –, »und dann hat ihn ein Schiff übers große Wasser gebracht, bis zu einem Ort, der Naplis heißt, und dort hat ihn ein Masser John Waller gekauft und auf seine Pflanzung gebracht, die in Spotsylvania County, Virginia, liegt – – –«
Am folgenden Montag fuhr Hühner-George mit Tom im Eselswagen in die Bezirksstadt Graham zum Einkaufen. Sie sprachen wenig und schienen jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Wie sie von Laden zu Laden gingen, bemerkte Hühner-George mit Genugtuung, mit welch ruhig-würdiger Haltung sein siebenundzwanzigjähriger Sohn den weißen Ladenbesitzern gegenübertrat. Sie gingen in ein Lebensmittelgeschäft, das – wie Tom erzählte – vor kurzem von einem ehemaligen County-Sheriff namens J.D. Cates übernommen worden war.
Der bullige Cates schien die beiden zu ignorieren und bediente seine wenigen weißen Kunden. Tom verspürte ein warnendes Vorgefühl, als er sah, wie Cates hier und da einen verstohlenen Blick auf Hühner-George warf, der mit seinem grünen Schal und seinem schwarzen Hut auffällig großtuerisch im Laden herumstolzierte und die Waren kritisch in Augenschein nahm. Instinktiv wollte Tom gerade seinen Vater beim Arm nehmen und
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