Wurzeln
sichtbar. Sie hatten offenbar den Lärm gehört, und obwohl jetzt fast völlige Stille herrschte, eilten sie, nach rechts und links Peitschenhiebe austeilend, durch den Gang. Als sie gegangen waren, ohne daß sie den Toten gefunden hatten, blieb es im Raum noch lange still. Dann hörte Kunta ein leises, böses Lachen von der Ecke her, wo der tote Verräter lag.
Bei der nächsten Essensverteilung herrschte gespanntes Schweigen. Als ob die toubobs etwas ahnten, klatschten ihre Peitschen noch öfter als sonst. Kunta schrie auf, als die Peitsche seine Beine traf. Er hatte inzwischen gelernt, daß einer, der nicht schrie, weitere Hiebe bekam, bis er doch schrie. Während er mit den Blicken den Lichtern folgte, die sich die Pritschenreihe hinunter bewegten, stopfte er den faden Brei in sich hinein.
Alle horchten auf, als ein toubob den anderen etwas zurief. Es folgte ein Hin und Her von Lichtern, Rufen und Fluchen, dann stürzte einer den Gang entlang zur Luke und kam bald darauf mit zwei anderen toubobs zurück. Kunta hörte, wie Handschellen und Ketten gelöst wurden. Zwei toubobs zerrten den Toten den Gang entlang zur Luke hin, während die anderen den Essenkübel weitertrugen.
Die Essensverteiler waren im unteren Laderaum, als vier weitere toubobs durch die Luke herunterkamen und dorthin gingen, wo der slati angekettet gewesen war. Kunta drehte den Kopf, so weit er konnte, und sah, wie Lichter hochgehoben wurden. Heftig fluchend ließen zwei toubobs ihre Peitschen auf menschliches Fleisch sausen. Der da immer geschlagen wurde, wollte offenbar nicht schreien. Die Schläge hörten sich mörderisch an, der Gefangene bäumte sich in seiner Qual gegen die Ketten auf, schien aber entschlossen, nicht zu schreien.
Die toubobs fingen an zu toben, die Lichter wechselten die Hände, wenn einer den anderen mit der Peitsche ablöste. Endlich begann der Geschlagene zu schreien – zuerst war es ein Foulah-Fluch, dann kamen Wörter, die Kunta nicht verstehen konnte, obwohl auch sie Foulah-Wörter waren. Kunta sah plötzlich die friedlichen Hirten der Foulah vor sich, die das Vieh der Mandinkas hüteten, und hörte die Peitsche wieder und wieder klatschen, bis das Opfer kaum noch wimmerte. Dann zogen die vier toubobs ab, erschöpft und über den Gestank fluchend.
Das Stöhnen des Foulah breitete sich in der Finsternis aus. Da rief eine klare Stimme auf Mandinka: »Teilt seine Schmerzen! Wir müssen an diesem Ort sein wie in einem einzigen Dorf!« Die Stimme gehörte einem Ältesten. Er hatte recht. Die Schmerzen des Foulah waren auch Kuntas Schmerzen. Er fühlte, daß die Wut ihn schier zerreißen wollte, zugleich aber auch einen namenlosen Schrecken, größer als je einen Schrecken zuvor, der seinen Sitz im Mark der Knochen zu haben schien. Einerseits wollte er sterben, um diesem Grauen zu entrinnen, andererseits wollte er weiterleben, um Rache zu nehmen. Er zwang sich, ganz still zu liegen. Es dauerte eine Weile, aber schließlich spürte er, wie Verkrampfung, Ratlosigkeit und sogar körperlicher Schmerz nachließen. Nur zwischen den Schultern, wo er mit dem heißen Eisen gezeichnet worden war, schmerzte es unvermindert. Ihm wurde klar, daß er wie alle anderen vor der Wahl stand, an diesem Ort, der offenbar die Hölle war, elend umzukommen oder aber die toubobs irgendwie zu überwältigen und zu töten. Es tat wohl, sich auf diesen einen Gedanken konzentrieren zu können.
Kapitel 36
Eine neue Folter war die Läuseplage. Läuse und Flöhe vermehrten sich tausendfach und bevorzugten behaarte Stellen an den Körpern ihrer Opfer. In den Achselhöhlen und zwischen den Beinen brannte es wie Feuer, und Kunta kratzte, soweit die Fesseln es erlaubten.
Der Drang, aufzuspringen und fortzurennen, war fast übermächtig; Tränen der Verzweiflung traten ihm in die Augen, und Zorn stieg in ihm hoch, doch er unterdrückte den Impuls und zwang sich zu stumpfer Ruhe. Es war schlimm, daß er sich nicht bewegen konnte. Am liebsten hätte er versucht, die Ketten durchzubeißen. Er sagte sich, daß er sich auf etwas konzentrieren müsse, was Gedanken und Hände beschäftigte, sonst würde er verrückt werden, was einigen hier im Laderaum schon widerfahren war, nach ihrem Geschrei zu urteilen.
Wenn Kunta ganz still lag und auf die Atemgeräusche der Männer links und rechts lauschte, vermochte er jetzt schon zu unterscheiden, wer schlief oder wach war. Er übte sich nun darin, den Ursprungsort entfernterer Geräusche zu bestimmen, und stellte
Weitere Kostenlose Bücher