Yelena und die Magierin des Südens - Snyder, M: Yelena und die Magierin des Südens
der Prozess hatte mehr als zweihundert Jahre gedauert.
Während ich mit dem Finger über die erhabenen Buchstaben auf der Titelseite des Bandes fuhr, verstand ich allmählich, warum Irys so vehement darauf bestanden hatte, dass ich entweder eine Ausbildung machen oder getötet werden müsse. Wenn meine Zauberkräfte außer Kontrolle gerieten, würde die Hülle in starke Schwingungen geraten. Enttäuscht sank ich in meinem Sessel zusammen. Ich hatte gehofft, in dem Buch Zauber sprüche und Lektionen oder eine Antwort zu finden. Ein Leitfaden nach der Art: deshalb hast du Macht, so musst du sie einsetzen – und vielleicht sogar ein Rezept für ein Gegenmittel zu Butterfly Dust.
Doch das war reines Wunschdenken gewesen. Wieder einmal musste ich feststellen, wie riskant es war, sich in solche Ideen zu verrennen. Hoffnung, Glück und Freiheit waren in meiner Zukunft nicht vorgesehen. Schon damals nicht, da ich als unwissendes Kind in Brazells Waisenhaus lebte. Während ich noch darauf hoffte, ein normales Leben führen zu können, war ich bereits als Laborratte für seine Experimente verplant.
Zusammengekauert saß ich in meinem Sessel und versank in Selbstmitleid. Unbeweglich blieb ich sitzen, bis die Sonne unterging und meine verkrampften Muskeln in den Beinen zu schmerzen begannen. Mit einem Ruck erhob ich mich, entschlossen, mich von meiner düsteren Stimmung nicht länger beeinflussen zu lassen. Wenn ich in den Büchern kein Rezept für ein Gegengift fand, musste es eine andere Möglichkeit geben. Irgendjemand musste doch etwas darüber wissen. Seit fünfzehn Jahren beschäftigte der Commander Vorkoster inseinem Team. Wenn niemand mir helfen konnte, würde ich es auf andere Weise versuchen – vielleicht das Gegengift stehlen oder Valek nachspionieren, wenn er es besorgte. Zu alldem war ich im Moment noch nicht in der Lage, aber ich nahm mir fest vor zu lernen, was mir noch an Können und Erfahrung fehlte.
Am nächsten Morgen schloss ich mich, dieses Mal mit leerem Magen, den laufenden Soldaten an. Als Ari und Janco an mir vorbeisausten, winkte Janco mir lässig zu und grinste spitzbübisch. Kurz darauf hörte ich stampfende Schritte hinter mir und nahm an, dass Janco mir einen Streich spielen wollte.
Ich machte Platz, um ihn überholen zu lassen, aber der Läufer blieb mir dicht auf den Fersen. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich Nix. Im selben Moment schossen seine Arme nach vorn, und er stieß mir in den Rücken. Stolpernd stürzte ich zu Boden. Nix rannte über mich hinweg und trat mir mit seinem Stiefel in die Magengrube, sodass mir die Luft wegblieb.
Mein Brustkorb schmerzte. Zusammengerollt wie ein Baby im Mutter leib lag ich auf dem Bo den und keuchte. Nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, setzte ich mich auf. Unaufhörlich strömten die Soldaten an mir vorbei, und ich fragte mich, ob einer von ihnen den Angriff dieses Mistkerls mitbekommen hatte.
Wenn er mich einschüchtern wollte, musste er sich etwas anderes einfallen lassen. Nix hatte mich soeben in meinem Entschluss bestärkt, die Kunst der Selbstverteidigung zu perfektionieren, damit ich Schurken wie ihm nicht länger hilflos ausgeliefert war. Ich rappelte mich auf und wartete, dass er auf seiner nächsten Runde bei mir vorbeikam, aber er tauchte nicht mehr auf.
Ari blieb stehen. „Was ist passiert?“
„Nichts.“ Nix war, genau wie Margg, mein persönliches Problem. Wenn ich das nicht selbst löste, würde er mich niemals in Ruhe lassen. Sofort meldete sich ein leiser Zweifel. Genau diese Einstellung hatte mich in den Kerker und mir das Todesurteil gebracht.
„Du hast Blut im Gesicht“, stellte Ari fest.
Ich wischte es mit dem Ärmel ab. „Ich bin hingefallen.“
Ehe er weitere Fragen stellen konnte, wechselte ich das Thema, um ihn abzulenken. Ich erzählte ihm von Valeks Ratschlag, die Übungsstunden nicht vor aller Augen abzuhalten. Ari stimmte mir zu, dass es sicherer sei, im Verborgenen zu trainieren, und bot sich an, nach einem geeigneten Ort Ausschau zu halten.
„Du bist Maren, nicht wahr?“, keuchte ich zwischen zwei Atemzügen. Seit einer Woche drehte ich nun meine Runden, und heute Morgen hatte ich mein Tempo so ausgerichtet, dass ich neben Maren lief.
Sie warf mir einen abschätzenden Blick zu. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Breite, kräftige Schultern über einer schmalen Taille ließen ihren Körper unproportioniert erscheinen. Sie bewegte sich mit kraftvoller Eleganz, und ich
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