Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
hochblickte.
»Danke«, sagte sie. »Aber ich fürchte, niemand wird mir meinen einzigen großen Wunsch erfüllen kön-nen.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen süßen Kuss auf die Wange. Einen Freundschaftskuss.
Es war ein Abschiedskuss.
Harry betrachtete sie aufmerksam. Seine Blicke schnellten zu etwas, das sich hinter ihr befand, bevor sich sein Mund mit glühendem Verlangen auf sie herabsenkte. Von diesem plötzlichen Angriff überrumpelt, geriet sie ins Wanken und streckte reflexartig die Arme nach ihm aus. Es war die falsche Reaktion zur falschen Zeit am falschen Ort … es war falsch, dass sie eine Welle des Wohlempfindens überkam, als er sanft, aber fordernd ihren Mund erforschte … doch wie sie soeben entdecken musste, gab es Versuchungen, denen sie nicht widerstehen konnte. Und seine Küsse schienen jeder Zelle ihres machtlosen Körpers eine Reaktion abzuringen, ein wahres Feuerwerk der Empfindungen. Ihr Herz raste, und ihr Atem ging so schnell, dass sie kaum mithalten konnte. Freude und Erregung beherrschten ihre Sinne, während um sie herum ein Sternenregen niederging, winzige Lichtblitze, die klirrend zu Boden fielen wie berstendes Glas…
Poppy versuchte, den schrillen Lärm einfach zu ignorieren, und schmiegte sich noch fester an ihn. Harry aber bremste sie mit einem Murmeln und führte ihren Kopf an seine Brust, als wollte er sie beschützen.
Sie öffnete die Augen und erstarrte, als sie sah, dass jemand … und nicht irgend jemand … auf den Balkon hinausgetreten war.
Lady Norbury, die vor lauter Überraschung ihr Champagnerglas fallen lassen hatte. Lord Norbury. Und ein weiteres älteres Ehepaar.
Und Michael. Mit einer Blondine am Arm.
Sie alle standen wie versteinert und starrten Poppy und Harry an.
Wäre in diesem Augenblick der Todesengel erschienen, in voller Montur mit schwarzen Flügeln und einer glänzenden Sense, Poppy hätte ihn mit offenen Armen empfangen. Denn mit Harry Rutledge küssend auf dem Balkon erwischt zu werden war nicht nur ein Skandal … das war der Stoff für eine Legende. Sie war ruiniert. Ihr Leben war ruiniert. Ihre Familie war ruiniert. Bei Sonnenaufgang würde ganz London Bescheid wissen.
Poppy war wie vor den Kopf geschlagen angesichts der schrecklichen Lage. Hilflos sah sie zu Harry auf. Und einen kurzen verwirrenden Augenblick lang glaubte sie, in seinen Augen einen Ausdruck räuberischer Genugtuung aufblitzen zu sehen. Doch dann veränderte sich seine Miene.
»Es könnte schwierig für uns werden, das zu erklären«, sagte er.
Zehntes Kapitel
Als sich Leo seinen Weg durch die Norbury-Villa bahnte, musste er insgeheim grinsen. Der Anblick einiger seiner Freunde – junge Lords, deren Ausschweifungen sogar seine vergangenen Heldentaten in den Schatten stellten –, die jetzt in gestärkten Hemden steckten, bis oben hin zugeknöpft, und mit tadellosen Manieren, amüsierte ihn. Nicht zum ersten Mal dachte Leo darüber nach, wie ungerecht es doch war, dass sich Männer so viel mehr erlauben konnten als Frauen.
Die Sache mit den Manieren zum Beispiel … Er hatte mitbekommen, wie seine armen Schwestern Hunderte von dämlichen Anstandsregeln lernen mussten, die in den oberen Gesellschaftskreisen erwartet wurden. Während sich Leos Interesse hauptsächlich darauf konzentrierte, diese Regeln zu untergraben. Und ihm, einem Mann mit Titel, wurde nahezu alles verziehen. Die Damen, die bei einer Abendgesellschaft den Fisch mit der falschen Gabel aßen, wurden hinter ihrem Rücken übel kritisiert. Ein Mann hingegen durfte übermäßig trinken oder eine unpässliche Bemerkung machen, ohne dass es überhaupt jemand bemerkt haben wollte.
Gleichgültig betrat Leo den Ballsaal. Er blieb in der Nähe des dreitürigen Eingangs stehen und betrachtete die Szene. Sie war eintönig und fad. Die allgegenwärtigen Jungfrauen mit ihren Anstandsdamen und die Grüppchen tratschender Frauen erinnerten ihn an einen Hühnerhof.
Dann richtete sich seine Aufmerksamkeit auf Catherine Marks, die in einer Ecke stand und Beatrix und ihren Partner beim Tanzen beobachtete.
Marks sah so angespannt aus wie immer, ihre schmale, dunkel gekleidete Gestalt war so aufrecht und steif, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt. Sie ließ keine Gelegenheit aus, Leo mit Verachtung zu strafen und ihn zu behandeln, als hätte er die intellektuellen Fähigkeiten einer Auster. Und sie war gegen jeden Versuch, sie mit Charme oder Humor aus der Reserve zu locken, gefeit.
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