Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
Gefühl.
Harry war noch nicht in sein Apartment zurückgekehrt. Poppy überlegte, was sie zu ihm sagen sollte, wenn er auftauchte, aber ihr fiel nichts ein. Langsam, wie in einem Traum, streifte sie durch die Zimmer. Anders als der kühle, unpersönliche Empfangsbereich, war der Rest seiner privaten Gemächer mit Plüsch und warmen Farben ausgestattet, und unzählige Sitzgelegenheiten luden zum Lesen und Entspannen ein. Alles war in makellosem Zustand, die Fenster waren blitzblank poliert, der türkische Teppich frisch gereinigt und mit dem Wohlgeruch von Teeblättern parfümiert. Es gab Kaminöfen mit Simsen aus Marmor oder geschnitztem Holz und Kachelöfen, unzählige Lampen und Wandleuchter, damit die Räume auch am Abend gut beleuchtet waren.
Für Poppy hatte man das Apartment um ein Schlafzimmer erweitert. Harry hatte ihr gesagt, dass sie so viele Räume haben könne, wie sie wünsche – die Gemächer waren so entworfen worden, dass man den angrenzenden Raum ohne Probleme öffnen konnte. Die Tagesdecke auf ihrem Bett hatte das weiche Blau eines Rotkehlcheneis, und das Betttuch aus feinstem Linnen war mit winzigen blauen Blumen bestickt. Hellblaue Vorhänge aus Samt und Satin säumten die Fenster. Es war ein schöner, femininer Raum, und Poppy hätte ihre Freude daran gehabt, wären nur die Umstände andere gewesen.
Sie versuchte herauszufinden, auf wen sie am meisten wütend war, auf Harry, Michael oder sich selbst. Vielleicht auf alle gleich. Und die Gewissheit, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Harry hereinkam, ließ sie zunehmend nervöser werden. Ihr Blick fiel auf das Bett. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass Harry sie nicht zwingen würde. Seine Niederträchtigkeit würde nicht so weit gehen, dass er ihr Gewalt antat.
Ihr wurde flau im Magen, als sie die Tür gehen hörte. Sie atmete einmal tief durch, und noch einmal, und wartete, bis Harrys breitschultrige Statur in der Türöffnung auftauchte.
Er blieb stehen und betrachtete sie mit ausdrucksloser Miene. Die Krawatte hatte er abgelegt, der Hemdkragen war aufgeknöpft und entblößte seine ausgeprägt kantige Kehle. Poppy achtete darauf, sich nicht zu bewegen, als Harry auf sie zukam. Er berührte ihr glänzendes Haar, ließ es Strähne für Strähne durch seine Finger gleiten. »Ich habe dein Haar noch nie offen gesehen«, sagte er. Er war so nah, dass sie den dezenten Duft von Rasierseife sowie einen Hauch von Champagner in seinem Atem riechen konnte. Er strich ihr mit den Fingerspitzen über die Wange und wurde gewahr, dass sie zitterte.
»Angst?«, fragte er sanft.
Poppy zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Nein.«
»Vielleicht solltest du welche haben. Ich bin viel freundlicher zu Menschen, die Angst vor mir haben.«
»Das bezweifle ich«, erwiderte sie. »Ich glaube eher, das Gegenteil ist der Fall.«
Ein Lächeln spielte um seine Lippen.
Poppy war verwirrt angesichts der Vielfalt an Gefühlen, die er in ihr weckte, eine sonderbare Mischung aus Feindseligkeit und Verlockung, Neugier und Groll. Sie riss sich von ihm los und ging zu ihrem Toilettentisch, um sich eine kleine Porzellandose mit vergoldetem Deckel anzusehen.
»Warum hast du dich letztlich für mich entschieden?«, hörte sie ihn mit ruhiger Stimme fragen.
»Ich dachte, es sei das Beste für Michael.« Sie empfand einen Anflug von Genugtuung, als sie sah, wie sehr ihn diese Bemerkung ärgerte.
Harry saß halb auf dem Bett, seine Haltung war ungezwungen und entspannt. Er ließ den Blick nicht von ihr. »Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich den normalen Weg gegangen. Ich hätte dich in aller Offenheit umworben und um deine Hand angehalten. Aber du hattest dich bereits für Bayning entschieden. Es war die einzige Alternative.«
»Nein, so ist es nicht. Du hättest mir Michael auch lassen können.«
»Es ist fragwürdig, ob er überhaupt jemals um deine Hand angehalten hätte. Er hat dich, und sich selbst, betrogen, indem er annahm, seinen Vater von der Verbindung überzeugen zu können. Du hättest den alten Mann sehen sollen, als ich ihm den Brief zeigte … Es hat ihn zutiefst gekränkt, dass sein Sohn ernsthaft in Betracht zog, so weit unter seinem Stand zu heiraten.«
Das schmerzte, was vielleicht Harrys Absicht war, und Poppy versteifte sich.
»Warum hast du dann nicht einfach gewartet, bis sich die Sache von allein geben würde? Bis Michael mich verlassen hätte? Und hättest dann die Fäden in die Hand genommen?«
»Weil immer noch eine kleine
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