Zarias Geheimnis
die Zeit vergessen. Der Zauber hatte aufgehört zu wirken, und Jenna konnte mich sehen.
Ich hörte Sams Stuhl quietschen, als er sich zu mir umdrehte. Kleine goldene Feuer flackerten in seinen Augen auf – bernsteinfarbene und haselnussbraune Lichtschimmer. Er sah verblüfft aus.
Ich hätte etwas tun, den Zauber sofort erneuern sollen, aber genau wie mein Bild auf dem Bildschirm war auch ich wie erstarrt.
»Hallo, Elfe!«, sagte Jenna. »Wie heißt du?«
Dieses Mal verschlug es mir nicht die Sprache. »Ich bin Zaria.«
Jenna sprang von Sams Schoß. Sie berührte mein Kleid. »Du bist echt«, gluckste sie.
»Ich muss gehen.« Wenn Sam und Jenna mich sehen konnten, konnte das auch jede herumschnüffelnde Elfe in Elfenland.
»Wie bist du auf meinem Handy gelandet?«, fragte Sam.
»Bleib hier!«, bettelte Jenna.
»Ich kann nicht«, erklärte ich ihr freundlich. Ich holte meinen Zauberstab hervor, saturierte ihn, berührte meinen Kopf und murmelte: »Verita sil nos mertos elemen.«
Jenna rannte zurück zu Sam. Er blickte auf die Stelle, wo ich stand, und streckte eine Hand aus, als wollte er mich zurückrufen. Ich eilte aus dem Zimmer, die Treppe hinauf und durch die Eingangstür.
Noch nie war mir meine Welt so weit entfernt vorgekommen.
Ich beschloss, durch das einzige offizielle Portal, das ich kannte, nach Tirfeyne zurückzukehren. Von Sams Haus aus machte ich mich auf die Suche, bis ich das Maisfeld-Portal wiederfand. Ich ging hindurch und betrat die Goldene Station. Dieses Mal machte ich mir keine Sorgen, gesehen zu werden.
Unsichtbar zu sein, hatte große Vorteile.
Ich flog hoch über Oberon-Stadt hinaus. In Gedanken ließ ich noch einmal Revue passieren, was auf der Erde passiert war, was gesagt und getan worden war, wie die Menschen ausgesehen und geklungen hatten.
Der Junge hatte mich wunderschön genannt. Ich. Wunderschön.
Ich schwebte in der Luft, sah nach unten und fragte mich, wo meine Freunde sein könnten. Die große EOM-Kuppel ragte heraus, größer und leuchtender als alles um sie herum.
Dann erblickte ich die Menge.
Vor Aufregung umherflatternde Elfen in jeder erdenklichen Flügel- und Haarfarbe drängten sich in einem wilden Durcheinander in der Luft zusammen. Irgendetwas passierte gerade am Boden.
Ich flog vorsichtig tiefer und versuchte, nah genug heranzukommen, um etwas sehen zu können. Mir war die Sicht versperrt. Gerade als ich aufgeben wollte, bewegte sich eine Gruppe ein wenig zur Seite, sodass ich einen Blick auf das Geschehen unter mir erhaschen konnte.
Es war Leona. Sie stand neben den Ziergärten im Hof und aalte sich in der Aufmerksamkeit des riesigenElfenauflaufs. Jedenfalls machte sie keine Anstalten, ihm zu entfliehen.
Ich flog sofort wieder höher. Es war mir völlig schleierhaft, warum sie sich dieser Meute mit Vergnügen zur Schau stellte. Ich hätte lieber unter Trollen gelebt, als mich von einem Mob Elfen so anstarren zu lassen. Ich fühlte mich dabei unwohl. Leona war, seit wir fliegen konnten, meine allerbeste Freundin gewesen. Jetzt verhielt sie sich so, als wäre ihr eine Schar Fremder wichtiger als ich. Ich kam nicht einmal nah genug heran, um mit ihr zu reden.
Unter mir sah Elfenland wie eine große Blume aus, die sich in alle Richtungen ausbreitete. Galena wirkte wie ein Blütenblatt mit der Pforte als Honigdrüse. Auf der anderen Seite der Stadt fiel mir ein anderes Blütenblatt ins Auge, aber niemand schien dorthin zu fliegen.
Keine Flüge. Natürlich. Die Eisernen Lande, wo die Kobolde lebten.
Ich wusste nicht, warum ich beschloss, mich auf den Weg zur Kobold-Kolonie zu machen. Zu sehen, wie Leona Hof hielt, bedrückte mich, und vielleicht wollte ich einfach nur an einem Ort sein, der meine Stimmung widerspiegelte. Vielleicht war ich auch einfach nur neugierig, wie es an der Grenzmauer zu den Eisernen Landen aussah. So oder so, irgendetwas zog mich in diese Richtung.
Je weiter ich mich vom Zentrum von Oberon-Stadt entfernte, desto spärlicher waren die Kuppeln undTürme gesät. Manche waren eindeutig baufällig, von bröckelnden Gemäuern und angelaufenem Metall verunstaltet. Die wenigen Elfen, denen ich begegnete, flößten mir ein wenig Angst ein. Ihre blutunterlaufenen Augen wirkten viel zu groß und ihr Flügelschlag wirkte merkwürdig abgehackt. Ihre Kleider waren ausgefranst. Was stimmte mit ihnen nicht? Waren das die »gesetzlosen Rüpel«, vor denen Beryl mich immer wieder warnte? Allein bei ihrem Anblick fühlten sich meine Flügel
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