Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
schnell auf die ihres Gatten und seiner Freunde begrenzt gewesen, und keinen Moment lang hatte sie sich gefragt, warum sie nicht in den feineren Kreisen ihrer Eltern oder der anderen junger Frauen verkehrten, die sie kannte. Genau genommen verblassten die wenigen Freundschaften, die sie vor ihrer Ehe unterhalten hatte, mit jedem Tag, während Lucians Welt zu ihrer wurde. Als ihre Eltern starben, hatte sie überhaupt niemanden mehr außer ihm gehabt.
Zu Beginn ihrer Ehe hatte sich seine Launenhaftigkeit manchmal gezeigt, aber es hatte nie etwas bedeutet. Er war schließlich ein Poet, ein Genie, und man sah über menschliche Unzulänglichkeiten bei jemandem seines Talents gern hinweg. Erst in den letzten Monaten seines Lebens kam es zusehends häufiger vor, dass ihn die Wut packte, und überdies zusehends brutaler.
Gedankenversunken blickte sie auf ihre Hand herab, deren kleiner Finger ein wenig gekrümmt war, auch wenn es kaum auffiel. Die kleinste Kleinigkeit versetzte Lucian in Rage. Die Dummheit von Kritikern, Fehler von Bediensteten, die Anwesenheit seiner Schwester oder ein falsches Wort von Judith. Er beschuldigte sie, untreu zu sein, ihn mit seinen eigenen Freunden zu betrügen. Natürlich lag nichts der Wahrheit ferner. Er war ihr Leben. Hinterher war er jeweils voller Reue und bat um Verzeihung. Er nahm sie in die Arme und versicherte ihr, alles würde wieder gut. Das wurde es auch, für eine Weile. Mit der Zeit wurden die harmonischen Phasen immer kürzer. Dennoch hatte er sie nie verletzt, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass er es jemals würde, also gab es für sie keinen Grund, Angst vor ihm zu haben. Einen Tag vor seinem Tod dann löste irgendeine Kleinigkeit, an die sie sich nicht einmal mehr erinnerte, seine Wut aus. Er beschimpfte sie als Hure, warf ihr wieder einmal vor, sich mit anderen Männern einzulassen. Sie stritt es vehement ab, doch er weigerte sich, sie anzuhören. Stattdessen sagte er ihr auf den Kopf zu, was sie bereits befürchtet hatte: Ihr Bett war nicht das einzige, in dem er sich häufiger aufhielt. Daraufhin war sie vor Zorn geplatzt.
Und das war ihr Fehler gewesen. Nie zuvor hatte sie ihm widersprochen, niemals die Stimme erhoben. Ihre Wut machte seine nur noch schlimmer. Er zwang sie auf die Knie und packte ihre Hände so fest, dass er ihr den kleinen Finger brach. Sie wehrte sich, was allerdings nur bewirkte, dass er ihr auch noch ins Gesicht schlug. Und dann nahm er sie, brutal und mit einer Rücksichtslosigkeit, die ihr Herz ebenso zerriss wie ihren Leib. Jener Akt hatte nichts mit Liebe oder Leidenschaft zu tun. Vielmehr war er eine grausame, fürchterliche Bestrafung.
Später hockte er weinend vor Reue vor ihrer abgeschlossenen Zimmertür. Er versprach, ihr nie wieder wehzutun, flehte sie an, ihm zu vergeben. Sie aber ließ ihn nicht herein und schwor, ihm niemals zu verzeihen. Sie sagte ihm, dass sie ihn verlassen würde. Vielleicht hätte sie sich umstimmen lassen, sobald ihr Körper nicht mehr wund, der Finger verheilt und der Bluterguss im Gesicht verblasst war. Doch am nächsten Morgen fand man ihn tot auf der Terrasse. Er und seine Freunde tranken damals gern oben auf dem flachen Dach des Hauses. Aus den leeren Flaschen auf dem Dach und der Lage des Körpers schloss man, dass er betrunken zu Tode gestürzt wäre. Aber ungeachtet der offiziellen Todesursache, wusste Judith es besser.
»Es war meine Schuld«, sagte sie leise. Arthur lag mit dem Kopf auf den Vorderpfoten da und beobachtete sie. »Ich hätte ihm sofort vergeben müssen.« Das hatte sie nicht, und ganz gleich, wie sehr sie es bedauerte, sie konnte nichts mehr daran ändern.
Würde sie es ändern, wenn sie könnte? Natürlich! Sie liebte Lucian. Sie hätte sich niemals seinen Tod gewünscht. Ein großer Teil von ihr war mit ihm gestorben. Dennoch war er immer gewalttätiger geworden und zusehends unzugänglicher für vernünftige Argumente. Bis heute wollte Judith nicht darüber nachdenken, was sein Verhalten bedeutete. Ihr Verstand sperrte sich, Worte wie verrückt oder wahnsinnig auch nur zu denken. Trotzdem konnte sie nicht umhin, sich zu fragen, ob sie den Rest ihres Lebens in Angst verbracht hätte, wäre er nicht gestorben. Wäre sie heute überhaupt noch am Leben?
»Verwundert es da, wenn ich lieber nicht über meine Ehe sprechen möchte?«, fragte sie ihren Hund. Arthur hob den Kopf. »Zu Anfang war sie wundervoll. Er war wundervoll. Ich kann nicht zulassen, dass das Ende alles
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