Zauber einer Karibiknacht
Gesichtsausdruck seiner Mutter war in sein Gehirn eingebrannt, obwohl er ihn bis zum heutigen Tag nicht richtig deuten konnte. War es Abscheu gewesen? Wut? Oder sogar Hass? Ihr Gesicht hatte noch die Spuren von Erics letzter Misshandlung getragen, wenn auch säuberlich mit Make-up abgedeckt. Und trotzdem hatte sie diesen Dreckskerl verteidigt.
Noch immer hatte er den Klang ihrer Stimme im Ohr: „Er hat mich geliebt. Er hat für mich gesorgt. Du hattest nicht das Recht, ihn zu schlagen. Du bist genau wie dein Vater. Du denkst nur an dich, und alle anderen sind dir egal.“
„Wohin bist du dann gegangen?“ Melindas Stimme riss ihn aus seinen Erinnerungen.
„Ich habe meinen Vater angerufen. Er hat mir das Privatflugzeug der Familie geschickt, und ab dann habe ich bei ihm gewohnt.“
„Wie gut, dass es deinen Vater gab.“
Sean musste lachen. „So etwas sagen nicht viele über Ben King.“
„Ich schon. Es war deine Mutter, die völlig falsch reagiert hat.“
„Das mag sein. Aber wegen dieses Vorfalls – wegen meiner Tat – habe ich sie nie wiedergesehen.“ Er hielt einen Moment inne. „Ein paar Jahre später ist sie gestorben.“
„Hat Eric …?“
„Nein, nein. Es war ein Autounfall. Irgendein Tourist hat sie überfahren.“
„Oh, Sean, das tut mir alles so leid für dich. Aber du solltest wirklich keine Schuldgefühle haben. Du hast absolut richtig gehandelt.“
Es tat ihm gut, dass sie ihm so beistand. Von seinen Brüdern abgesehen war sie der erste Mensch, der Herz und Mitgefühl für ihn zeigte, ihn trösten wollte. Und jetzt, wo er mit Melinda über die traumatische Erfahrung gesprochen hatte, fühlte er sich wie von einer Zentnerlast befreit.
Es war riskant für ihn, sich mit ihr so verbunden zu fühlen, das wusste er. Aber er konnte nichts dagegen tun.
„Und du solltest wegen heute keine Schuldgefühle haben“, sagte er. „Du bist jung, das Leben muss für dich weitergehen.“
Zärtlich strich er ihr über die Wange. „Du musst loslassen, Melinda, die Schuldgefühle vergessen. Sonst gehst du daran kaputt.“
Noch immer hielt sie das gerahmte Foto in der Hand. Sean konnte diesen Steven Hardesty nicht ausstehen. Und auf keinen Fall würde er zulassen, dass Melinda wegen eines Toten ihr Leben zerstörte.
Er nahm ihr den Rahmen weg und legte ihn mit dem Foto nach unten auf den Nachttisch. „Steven ist tot, Melinda.“
„Ja, ich weiß.“
„Sag mir, würde er das wollen? Dass du für den Rest deines Lebens nur noch trauerst?“
„Nein.“
„Dann begrab die Erinnerung an ihn. Sei mit mir zusammen.“ Er sah ihr in die Augen, die vom Weinen gerötet waren. „Benutz mich einfach, um deine Lebensfreude zurückzugewinnen. Das zieht keine Verpflichtungen nach sich. Wir wissen ja beide, dass ich nicht mehr lange hier sein werde. Es wird keine Komplikationen geben, weil ich keine Forderungen an dich stelle.“
Natürlich stimmte das nicht so ganz, weil er sich bereits nach ihr sehnte. Andererseits war es eine Tatsache, dass ihre Wege sich bald trennen würden. Und wenn er ihr die Lebensfreude zurückgegeben hatte, würde diese Trennung sie beide nicht am Boden zerstört zurücklassen.
Zaghaft lächelte sie, was ihn sehr erleichterte. „Eigentlich wollte ich ja gar keinen Heulkrampf kriegen“, sagte sie leise.
„Ist schon in Ordnung.“
„Nein, ist es nicht“, widersprach sie. „Als ich nach oben gekommen bin, ging’s mir noch richtig gut, wirklich. Ich wollte duschen und auf dich warten, als mir plötzlich das Foto ins Auge gefallen ist. Und da hat es mich wie ein Keulenschlag getroffen. Er ist fort. Für immer. Und ich bin hier. Mit dir. Da habe ich mich plötzlich schlecht gefühlt – gerade weil ich mich so gut fühlte. Das ergibt überhaupt keinen Sinn, oder?“
„Doch, ich kann das gut verstehen.“ Tröstend nahm Sean sie in die Arme und fühlte eine ungeahnte Wärme in sich aufsteigen. Das war nicht das sexuelle Begehren, das er für sie empfand. Es war mehr, es ging tiefer. Er hatte keine Bezeichnung dafür – und wollte auch lieber keine finden.
Vertrauensvoll schmiegte sie sich an ihn. „Das war ein ganz schön aufregender Tag, was?“
„Allerdings. Bist du müde?“
Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf.
„Das freut mich“, sagte er lächelnd.
Als er sie küsste, erwiderte Melinda den Kuss sofort und verlor sich in dem zärtlichen Augenblick. Ja, dachte sie, ich muss leben, ich will leben, und werde mich nicht mehr in mein Schneckenhaus der
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