Zauberschiffe 01 - Der Ring der Händler
Gesicht seiner Großmutter. Er sah sie einfach nur an. Das Blut der Havens war deutlich zu erkennen, in der Art, wie er das Kinn reckte, und in dem Ärger in seinem Blick. Doch als Althea die Schüssel mit dem Tuch neben ihm abstellte, sah sie, wie der Junge sich zusammenriss. Er holte einige Male Luft, und seine Miene entspannte sich, und für einen winzigen Augenblick erkannte sie in seinem Gesicht nicht nur die Züge ihres Vaters, sondern auch ihre eigenen – wie in einem Spiegel.
Schockiert schwieg sie.
Als der Junge schließlich antwortete, klang seine Stimme sanft und vernünftig. »Ich habe Leute schon tausendmal so sprechen hören. Es ist Sas Wille, sagen sie. Schlechtes Wetter, Herbststürme, totgeborene Kinder. Alles Sas Wille.«
Er griff nach dem Tuch, faltete es sorgsam und drückte es dann vorsichtig gegen seinen Kiefer. Die Seite seines Gesichts war bereits rot angelaufen, und der Junge wirkte immer noch zittrig und unkonzentriert. Seine Worte klangen etwas undeutlich. Aber er wirkte weder eingeschüchtert noch verängstigt, sondern nur darauf bedacht, seine Großmutter mit seinen Worten zu erreichen, als könnte er sein Leben retten, wenn er sie auf seine Seite zog. Vielleicht war dem ja auch so.
»Bei Stürmen bin ich bereit zu sagen, es ist sein Wille. Totgeborene Kinder, möglicherweise. Jedoch nicht, wenn der Ehemann seine Frau noch am Tag zuvor verprügelt hat…«
Er brach ab, als ihm offenbar irgendwelche unerwünschten Erinnerungen kamen. Dann blickte er wieder seiner Großmutter ins Gesicht. »Ich glaube, Sa hat uns unser Leben geschenkt und will, dass wir es gut leben. Natürlich legt er uns Hindernisse in den Weg, das schon… Ich habe Menschen erlebt, die gegen seine Grausamkeit aufbegehrten und fragten: ›Warum? Warum?‹ Und am nächsten Tag sah ich eben diese Leute mit ihren Sägen hinausgehen und Äste von ihren Obstbäumen schneiden und junge Bäume ausgraben und sie weit von dem Ort, wo sie gewachsen waren, wieder einpflanzen. ›Dort werden sie besser wachsen und mehr Früchte tragen‹, sagten die Arbeiter im Obstgarten. Sie stehen aber nicht bei den Bäumen und erklären ihnen, dass es nur zu ihrem eigenen Besten ist.«
Er nahm den Lappen von seinem Gesicht und faltete ihn erneut. »Meine Gedanken schweifen ab«, sagte er unglücklich.
»Und das gerade dann, wenn ich noch viel klarer mit dir sprechen will, Großmutter. Ich glaube nicht, dass ich Sas Willen erfülle, wenn ich meine Priesterschaft verlasse und an Bord eines Schiffes lebe, damit es unserer Familie finanziell wohl ergeht. Ich glaube eher, es ist der Wille meines Vaters. Und um das zu erreichen, bricht er ein Versprechen und außerdem auch mein Herz. Zudem ist mir keineswegs entgangen, dass er dieses unwillkommene Geschenk, das er mir aufdrängt, erst gestern Tante Althea aus den Händen gerissen hat.«
Zum ersten Mal blickte er Althea direkt an. Trotz seiner schmerzverzerrten Miene und der geschundenen Haut schien einen Moment ihr Vater aus diesen Augen zu schauen. Es war dieselbe unendliche Geduld, die den eisernen Willen abmilderte. Das ist kein zerbrechlicher, eingeschüchterter Novize, erkannte sie verblüfft. Sondern der Verstand eines Mannes in dem reifenden Körper eines Jungen.
»Selbst dein eigener Sohn erkennt das Unrecht deines Handelns«, beschuldigte sie Kyle. »Dass du mir die Viviace entreißt, hat nichts mit deiner Überzeugung zu tun, ob ich sie befehligen kann oder nicht. Sondern ausschließlich mit deiner eigenen Gier.«
»Gier?«, schrie Kyle verächtlich. »Gier? Na, das gefällt mir! Meine Gier veranlasst mich also dazu, ein Schiff zu übernehmen, das so entsetzlich verschuldet ist, dass ich froh sein kann, wenn ich es abzahlen kann, bevor ich sterbe. Gier lässt mich also vortreten und die Verantwortung für einen Haushalt übernehmen, in dem niemand eine Ahnung hat, wie man klug mit seinem Geld umgeht. Althea, wenn ich glauben würde, dass du nützlich an Bord der Viviace arbeiten könntest, würde ich dir sofort eine Chance geben. Nein, mehr noch.
Wenn du auch nur den kleinsten Beweis deiner seemännischen Fähigkeiten erbringen würdest, würde ich dir das verdammte Schiff mitsamt seinen verfluchten Schulden zum Geschenk machen. Aber du bist nichts weiter als ein verwöhntes kleines Mädchen!«
»Lügner!«, rief Althea unendlich angewidert.
»Bei Sa, ich schwöre, dass es so ist!«, brüllte Kyle wütend.
»Wenn auch nur ein unbescholtener Kapitän für deine Seetauglichkeit
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