Zauberschiffe 06 - Herrscher der drei Reiche
Klirren eines Duftflakons. Einen Moment blieb er in dem dämmrigen Gang stehen und schloss die Augen. Einige ihrer Beschuldigungen waren durchaus nachvollziehbar. Aber ihre Geschichte war unlogisch und unwahrscheinlich. Er zweifelte daran, dass irgendjemand an Bord glaubte, was sie über Kennit gesagt hatte. Außer ihm. Und es war nicht ihr Wort, dem er glaubte. Sondern Ettas.
13. Konvergenzen
»Es ist fertig. Aber ich muss ein Loch durch dein Ohr bohren. Macht dir das etwas aus?«
»Nach allem, was du bereits gemacht hast, dürfte ich das vermutlich nicht einmal merken. Darf ich ihn zuerst anfassen?«
Amber legte den großen Ohrring in Paragons offene Hand.
»Hier. Weißt du, du könntest auch einfach deine Augen öffnen und hinsehen. Du musst nicht mehr alles nur durch Tasten wahrnehmen.«
»Noch nicht«, erwiderte Paragon. Ihm wäre es lieber gewesen, sie würde nicht davon sprechen. Warum er seine Augen noch nicht öffnete, konnte er ihr nicht erklären. Er würde wissen, wann die Zeit reif war. Paragon wog den Ohrring in der Hand und lächelte genießerisch über das Gefühl seines neuen Gesichts. »Es ist wie ein Netz aus hölzernen Gliedern. Mit einem Klumpen in der Mitte.«
»Deine Beschreibung ist wirklich ausgesprochen schmeichelhaft«, bemerkte Amber ironisch. »Es soll ein silbernes Netz mit einem blauen Edelstein in der Mitte sein. Es passt zu einem Ohrring, den ich trage. Ich stehe an der Reling. Halt mich fest, damit ich an dein Ohrläppchen komme.«
Als er ihr seine Handfläche als Plattform anbot, kletterte sie ohne zu zögern hinauf. Er hob sie an sein Ohr und zuckte nicht mit der Wimper, als sie den Bohrer ansetzte. Die Rekonstruktion seines Gesichts war längst nicht auf dieselbe Weise schmerzhaft gewesen, wie Menschen Schmerz wahrnahmen. Amber lehnte sich gegen seine Wange, während sie arbeitete, und stemmte sich gegen den Aufprall der Wellen.
Es kitzelte merkwürdig, als der Bohrer durch sein Ohrläppchen drang. Hexenholzspäne fielen in einem feinen Schauer herunter, und sie fing sie in ihrer Segeltuchschürze auf.
Paragon verschluckte sie am Ende jeden Tages. So verlor er keine Erinnerungen.
Mittlerweile versteckte er sich nicht mehr vor ihnen. Mutter verbrachte jeden Tag mit den Logbüchern auf dem Vordeck.
Wenn es regnete, schützte sie sich und ihre Bücher unter einem Segeltuchdach. Er verstand zwar das Geplapper ihrer verkrüppelten Zunge nicht, aber das spielte keine Rolle. Sie saß auf dem Vordeck und lehnte sich an seine Reling, während sie las. Durch sie sickerten die uralten Erinnerungen wieder in ihn hinein. In diesen Büchern waren die spärlichen Beobachtungen seiner Kapitäne während all der Jahre aufgezeichnet worden.
Die Menge jedoch spielte keine Rolle. Die Anmerkungen waren nur Meilensteine für seine eigenen Erinnerungen.
Amber hatte sein Ohrläppchen durchbohrt und zog den Bohrer zurück. Einen Augenblick später baumelte der Ohrring in seinem Ohr. Auf der Rückseite sicherte sie das Schmuckstück mit einem Haken. Dann trat sie zurück, während er sein eigenes Holz an sich akzeptierte. Er zog prüfend an dem Schmuckstück und schüttelte den Kopf, um sich an das Gewicht zu gewöhnen. »Ich mag es. Habe ich die Färbung richtig hinbekommen?«
»Mir gefällt es auch.« Amber seufzte zufrieden. »Und du hast es genau richtig gemacht. Es ist jetzt Rosa statt Grau und leuchtet so brillant silbrig, dass ich es kaum anblicken kann. Die Edelsteine schimmern blau in diesem silbernen Glanz, sodass es aussieht wie das Meer an einem sonnigen Tag. Ich wünschte, du würdest es dir ansehen.«
»Bald.«
»Nun, du bist wiederhergestellt, bis auf einige kleinere Schönheitsreparaturen. Ich kann mir beim letzten Schliff Zeit lassen.«
Sie strich erneut zärtlich mit ihren Händen über sein Gesicht.
Amber war sofort auf das Vordeck gekommen, nachdem sie die Schlüsselinsel verlassen hatten. Sie hatte ihre Werkzeugkiste abgestellt, sich an der Reling festgebunden und war über die Bordwand geklettert. Dann vermaß sie sein Gesicht und brachte mit Holzkohle irgendwelche Markierungen an. Dabei hatte sie die ganze Zeit gesummt.
Mutter war ebenfalls an die Reling getreten und hatte eine Frage gestammelt.
»Ich repariere seine Augen. Und verändere sein Gesicht. Er selbst wollte es so. Hier, unter dem Hammer, liegt eine Zeichnung. Seht sie Euch an, wenn Ihr wollt.« Amber war über seine Brust gekrabbelt, während sie sprach. Dabei schonte sie die verätzte Seite ihres
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