Zauberschiffe 06 - Herrscher der drei Reiche
Vordeck ihrer geliebten Viviace stand eine einzelne Gestalt. Ihre dunkelblaue Jacke flatterte im Wind, und sie hielt sich etwas schief, weil sie ihr ganzes Gewicht auf ein einziges Bein gestützt hatte. Das musste Kennit sein. Bevor sie das Deck des Paragon verlassen hatte, waren noch andere neben ihm gewesen. Der junge Mann hätte Wintrow sein können. Zwar konnte Althea nicht wirklich behaupten, dass sie ihn erkannt hätte, aber sein Haar und seine Haltung erinnerten sie an ihren Vater. Konnte diese Gestalt ihr Neffe gewesen sein? Wenn ja, wo war er jetzt? Warum wartete Kennit allein auf sie?
Unwillkürlich sah sie zum Paragon zurück. Sie konnte Brashen sehen, der besorgt auf dem Vordeck stand. Clef stand neben ihm, die Hände in die Hüften gestemmt, in einer unbewussten Nachahmung seines Kapitäns. Ambers Haar wehte wie Seide im Wind, und ihr starres Gesicht ließ sie wie eine zweite Galionsfigur aussehen. Paragon starrte blicklos, mit verschränkten Armen und einem verschlossenen Gesicht zur Viviace hinüber. In seinen angespannten Muskeln lag eine schreckliche Endgültigkeit. Er hatte nichts gesagt, seit die Viviace in Sicht gekommen war. Als Althea schließlich gewagt hatte, ihn anzufassen, hatten sich seine Muskeln unter ihren Fingern angespannt. Sie waren so hart wie Holz gewesen, und sie hatte das Gefühl gehabt, als berühre sie den harten Rücken eines knurrenden Hundes.
»Hab keine Angst«, hatte sie leise gesagt, aber er antwortete nicht.
Amber saß gefasst neben ihr auf der Reling und schüttelte den Kopf. »Er hat keine Angst«, erklärte sie gedämpft. »Die Wut, die in ihm tobt, erstickt alle anderen Gefühle.« Das Haar wehte ihr ins Gesicht, und Ambers Stimme klang unbeteiligt und fern.
»Die Gefahr verbirgt uns unter ihrer hohlen Hand, und wir können nichts weiter tun, als dazustehen und zuzusehen, wie die Welt sich dreht. Wir balancieren auf einem schmalen Grat. Die Menschheit glaubt immer, dass sie den Lauf der ganzen Welt entscheidet, und das stimmt auch. Aber es geschieht nie in dem Augenblick, in dem sie es vermutet. Die Zukunft Tausender kräuselt das Wasser wie eine Seeschlange, und das Schicksal eines Schiffes wird zum Schicksal der ganzen Welt.«
Sie sah Althea an, und ihre Augen glühten wie Branntwein in einem Glas, das gegen das Licht eines Kammfeuers gehalten wird. »Fühlst du es nicht?«, flüsterte sie. »Sieh dich um. Wir stehen vor dem Eintritt in ein neues Zeitalter. Wir sind eine Münze, die sich in der Luft dreht, ein Runenstück, das im schäumenden Wasser wirbelt. In diesen Tagen, in diesem Moment, in einem Atemzug, wird die Zukunft der Welt ihren Kurs um einen Strich ändern. So oder so wird die Münze klingend landen, die Rune an die Oberfläche schnellen. Das Gesicht, das oben liegt, wird unsere Tage bestimmen, und die Kinder werden irgendwann sagen: ›So ist es schon immer gewesen‹«
Ihre Stimme verklang, aber Althea hatte das Gefühl, als würde der Wind die Worte um die ganze Welt tragen. Ihre Kopfhaut prickelte. »Amber? Du jagst mir Angst ein.«
Amber lächelte ihr zu. »Tatsächlich? Allmählich scheinst du weise zu werden.«
Althea konnte den starren Blick dieser Augen nicht mehr ertragen. Schließlich blinzelte Amber und sah sie wieder an wie gewöhnlich. Dann sprang sie von der Reling zurück auf das Deck, wischte sich die Hände an ihrer Hose ab und zog ihre Handschuhe wieder an. »Zeit, dass du gehst«, verkündete sie. »Komm, ich helfe dir mit deinem Haar.«
»Pass für mich auf Paragon auf«, bat Althea sie leise.
»Das würde ich gern tun.« Amber strich mit ihren langen Fingern liebkosend über die Reling. »Aber dem heutigen Tag muss er sich allein stellen.«
Jetzt blickte Althea von der Gig zurück und wünschte, dass Amber mitgekommen wäre. Sie umklammerte die Schriftrolle fester und fragte sich erneut, ob sich Kennit wohl von dem sorgfältig aufgesetzten Angebot beeindrucken ließ. Er musste sich einfach umstimmen lassen! Alles, was sie von dem Mann gehört hatte, kündete davon, dass er von ebenso zupackender Intelligenz wie von großer Weitsicht war. Er hatte selbst die weiße Fahne gehisst, also war er zu Verhandlungen bereit.
Zumindest würde er sie anhören. Selbst wenn er Viviace liebte – vielleicht sogar, weil er sie liebte –, würde er einsehen, dass es in aller Interesse lag, wenn das Lebensschiff zu seiner Familie zurückkehrte und er dafür ungeheuer profitable Handelsbeziehungen knüpfen konnte. Plötzlich hob Amber
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