Zeit der Eisblueten
Fotos haben wolle, und er steckte sich einige Schnappschüsse in die Brieftasche. Dann rief Sheila sie nach unten zum Essen.
Sie hatte einen Braten zubereitet. »Das isst man doch in England?«, fragte sie mit einem aufgesetzten Lächeln, als sie sich an einem großen Tisch niederließen.
»Manche ja. Ich esse nicht viel Fleisch seit dem Ausbruch von Maul- und Klauenseuche, Rinderwahn und …«
Miranda legte das Gesicht in die Hände und kicherte haltlos. »Maul- und Klauenseuche, Rinderwahn …?«
»Ja, genau. Es ist jetzt ein paar Jahre her … Es handelt sich um Krankheiten, die …«
Plötzlich schaltete sich der Junge ein. »Ich bin Veganer. Mich widert die Vorstellung an, das vergammelte Fleisch toter Tiere zu essen. Ich trinke auch nicht die Sekrete ihrer Euter, und die daraus gewonnenen Produkte ekeln mich genauso an.«
»Um Himmels willen«, stöhnte Sheila, »doch nicht jetzt.«
»Und woher bekommst du deine Proteine?«, fragte Dafydd und unterdrückte ein Grinsen.
»Aus Bohnen, Tofu, Nüssen und Getreide«, antwortete der Junge und belud seinen Teller vor allen anderen mit Kartoffeln und Gemüse. »Hauptsächlich durch Erdnussbuttersandwiches. Brot und Nüsse liefern vollwertiges Protein.«
»Ich dachte, Erdnüsse seien keine Nüsse, sondern ein Gemüse«, erwiderte Dafydd.
Der Junge blickte ihn zum ersten Mal an. »Stimmt. Aber sie ergänzen sich trotzdem.«
Dafydd betrachtete den mürrischen Jugendlichen. Er war nicht nur beunruhigend scharfsinnig, er wirkte mit seinem ausgemergelten Gesicht, seiner totenähnlichen Blässe und seinen kalten Augen auch fremdartig – finster und zart zugleich. Höchstwahrscheinlich verbarg sich ein äußerst verletzlicher junger Bursche hinter all dem – in diesem Haus der starken, selbstbewussten Frauen. Dafydd hatte bisher noch keinerlei Interaktion zwischen Bruder und Schwester beobachten können und fragte sich, was die beiden miteinander verband. Von ihrem Äußeren und ihrer Persönlichkeit her hätten sie jedenfalls nicht unterschiedlicher sein können.
Es wurde ein recht problemloser Lunch. Miranda sorgte mit ihren aufmerksamen Fragen und ihrem ansteckenden Lachen für eine gute Stimmung. Selbst Sheila, die sich bemühte, das Beste aus einer lästigen Situation zu machen, erschien bemerkenswert heiter. Dafydd musterte sie mehrere Male eingehend. Die Mutter meiner Kinder. Er ließ diese Vorstellung einen Moment lang in seinem Kopf kreisen und versuchte, seine Erfahrung mit ihr als gefährlicher, rachsüchtiger und gerissener Männerfresserin beiseitezuschieben. Eine vernünftige Mutter, eine gute Versorgerin, eine gute Nestbauerin, eine präsentable Frau, stark, ein würdiges Vorbild, solange man nicht zu genau hinschaute, nicht in den Ecken stöberte … und im Keller.
»Was kommt als Nächstes?«, fragte er, als die Kinder für einen Moment den Raum verließen.
»Als Nächstes … Lass uns die Geldfrage klären, und dann kannst du wieder nach Hause fliegen. Wir sollten uns am Freitag hier treffen. Die Kinder sind in der Schule, und ich habe den Tag frei.«
»In Ordnung. Aber ich habe mit meiner Frage, was als Nächstes kommt, gemeint, dass ich Zeit mit ihnen verbringen möchte.« Seine Augen wanderten kurz zur Küche, wo die beiden mit Geschirr herumklapperten und sich leise unterhielten. »Ich würde sie gern allein sehen. Vielleicht einzeln.«
»Warum ist das nötig?«, fragte sie. »Es ist nicht gut für sie, dir zu nahe zu kommen, und dann verschwindest du wieder aus ihrem Leben. Ich verstehe auch nicht, inwiefern es dir helfen würde.«
»Das kaufe ich dir nicht ab, Sheila. Entweder bin ich ihr Vater, oder ich bin’s nicht. Hast du deine eigenen Worte vergessen? Dass du all das nur tust, weil Miranda ihren Vater kennen lernen wollte.«
»Gut, einverstanden«, zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen und ließ den Blick zur Küche gleiten. »Aber ich erwarte von dir, dass du diskret bist. Ich habe ihnen strikte Anweisungen gegeben, mit niemandem darüber zu sprechen, obwohl Miranda ums Verrecken kein Geheimnis für sich behalten kann. Versuch, irgendetwas zu arrangieren, bei dem nicht Massen von Leuten dabei sind.«
Dafydd senkte die Stimme. »Worin besteht eigentlich dein Problem? Warum ist dir das so wichtig? Ich bin doch ein akzeptabler Vater. Es wäre bestimmt besser für sie, wenn sie offen mit der Sache umgehen könnten. Einen Vater zu haben ist nach allgemeiner Meinung erheblich besser, als keinen zu haben.«
»Das ist meine
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