Zeit der Skorpione: Laura Gottberg ermittelt (German Edition)
Schlimmes erlebt, und das bricht jetzt aus Ihnen heraus. Es wird vorübergehen.»
Baumann antwortete nicht, wartete mit geschlossenen Augen auf den Stich der Infusionsnadel und zuckte wieder zusammen, als er kam, obwohl er sich darauf konzentriert hatte, nicht zusammenzuzucken. Jede Berührung erschien ihm wie ein Angriff, jedes Öffnen oder Schließen einer Tür. Das Herumgewerkle der Schwestern oder Putzfrauen war zu laut, schnürte ihm die Luft ab. Er wäre gern weggelaufen.
Jetzt zog jemand seine Bettdecke weg. Auch das erschreckte ihn, obwohl er darauf vorbereitet war. Natürlich brauchte er eine frische Bettdecke, oder jedenfalls eine ohne rote Flecke. Aber ohne Bettdecke fühlte er sich ausgeliefert. Er versuchte, an etwas anderes zu denken.
Laura fiel ihm ein. Selbst ihr Besuch hatte ihn total angestrengt, und sie war meilenweit von ihm entfernt gewesen. Eine Fremde, die nichts von ihm wusste. Warum dachte er das? Wenn er das dachte, dann kam diese nagende Angst in ihm hoch, und er meinte zu erstarren, seine Muskeln schienen sich zu verknoten, und er schnappte plötzlich nach Luft wie ein Ertrinkender, atmete immer schneller, sein Herz raste, das Blut rauschte in seinen Ohren.
«Er hyperventiliert», sagte der Arzt. «Gebt mir eine Plastiktüte, schnell!»
Peter Baumann sah die Hände des Arztes, die hellblaue Tüte, die sich über sein Gesicht senkte. Wieder wollte er sich aufbäumen, doch rasende Schmerzen in der Brust machten ihn kraftlos. Seine Arme wurden festgehalten, obwohl er sich nicht mehr rührte.
«Atmen Sie ganz ruhig in diese Tüte», befahl der Arzt. «Dann wird es Ihnen gleich bessergehen.»
Baumann atmete, dachte: Sie wollen mich ersticken. Dachte: Ich leide unter Verfolgungswahn. Ich bin verrückt geworden! Wieder stieg Panik in ihm auf.
«Valium», sagte der Arzt.
Valium, dachte Baumann, ohne zu begreifen, was das Wort bedeutete. Den Einstich spürte er diesmal kaum. Er spürte nur, dass sein Herzschlag ruhiger wurde und die Angst verebbte, wie rotglühendes Magma, das nach einem Vulkanausbruch ins Erdinnere zurücksinkt. Die rote Angst verkroch sich in sein Innerstes. Baumann wusste, dass er einschlafen würde, doch er wusste auch, dass die rote Angst noch da sein würde, wenn er wieder aufwachte.
Er nahm nicht mehr wahr, dass der Arzt seinen Blutdruck maß und ihn ein paar Minuten lang besorgt beobachtete.
Er konnte auch nicht hören, dass der junge Mediziner draußen vor seinem Krankenzimmer ziemlich laut «Scheiße!» sagte und die Anweisung gab, den Patienten besonders intensiv zu überwachen. Baumann schlief.
Seltsam, dachte Laura Gottberg. Irgendwer im BKA oder sonst wo muss die Anfrage des Staatsanwalts Cichetto mit den alten Ermittlungsakten über die Hardenberg Bank und ihre Sicherheitsfirma in einen Ordner gepackt und ihn Becker in die Hand gedrückt haben. Es kann Zufall sein, aber es kann auch Absicht dahinterstecken. Außerdem fehlt die letzte Seite des Berichts und damit auch der Name des Ermittlers. Ich muss also herausfinden, wer Becker diesen Aktenordner gegeben hat. Wenn er es nicht genau weiß, dann wird es spannend.
Er versuchte ruhig dazusitzen und in den Park zu schauen. Einfach zu schauen. Früher Nachmittag, und draußen war es ganz plötzlich warm geworden. Man spürte die Wärme sogar im Haus. Die rosa Anemonen und Zyklamen unter den Olivenbäumen hatten sich über Nacht vermehrt. Alle Blüten waren auf einmal aufgegangen. Wie kleine Sterne wogten sie im sanften Wind, der die Zweige der alten Bäume bewegte und die silbrige Unterseite der Blätter entblößte.
Durch Paolo Massimos große Fenster sah man silbergrünes Fluten, das in die grünblauen Hügel jenseits des Orcia-Tals überging und von dort in die Wolkenwirbel am östlichen Himmel.
Es sieht aus wie ein Gemälde von van Gogh, dachte Paolo Massimo. So lebendig, dass es gefährlich sein könnte. Es hat etwas Verschlingendes, Züngelndes. Beinahe sehnte er sich nach der Begrenztheit seiner Zelle in Siena. Der Zelle mit dem Auge und den Schimmelflecken an der Wand. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Realitätsverlust führt zu Gefühlstaubheit, hatte sein Vater behauptet.
Leo Hardenberg war tot. Massimo empfand kein Bedauern darüber. Er hatte Hardenberg nie gemocht und bedauerte nur, dass Hardenberg in seinem Park verscharrt worden war. War das Gefühlstaubheit? Oder einfach Ehrlichkeit? Durfte man angesichts des gewaltsamen Todes eines Mitmenschen, mit dem man vor ein paar Tagen
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