Zeit der Sternschnuppen
später noch mal an, Sie werden sehen, Ihre Gattin wird Ihnen einen ganz plausiblen Grund nennen.«
Das wäre möglich, dachte ich finster. Nur den wahren Grund werde ich nicht erfahren. Ist mein Verdacht wirklich so abwegig gewesen? Sie ist hübsch – warum sollte ihr in meiner Abwesenheit nicht ein Kerl den Hof gemacht haben? Wenn sich das bewahrheiten sollte… Aber vielleicht ist doch alles ganz anders… Ich muß hier ‘raus, und wenn ich mir den Weg mit Gewalt frei machen müßte!
»Nun machen Sie nicht so ein tragisches Gesicht«, ermunterte mich Kallweit, »es gibt für alles eine Erklärung.«
»Doktor, ich habe es mir überlegt. Ich gestehe, daß ich mich fünfeinhalb Monate bei einem Mädchen aufgehalten habe. Sie hatten recht, ich wollte die Dame nicht kompromittieren. Das mit Aul und dem sechsten Mond war ein Spaß. Ich habe ihn mir zusammen mit dieser bewußten Dame ausgedacht – Zeit hatten wir ja genug. Wird Ihr Chef mich entlassen, wenn ich ihm das eingestehe? Oder ist ein Seitensprung für einen Psychiater auch ein krankhaftes Symptom?«
Kallweit erwiderte schmunzelnd: »Das ist ein Wort. Ich wußte, daß Sie die Komödie nicht lange durchhalten würden. Was den Chef anlangt, wage ich allerdings keine Prognosen zu stellen. Sie sind erst ein paar Tage in seiner Obhut. Möglich, daß er Sie gleich entläßt, möglich aber auch, daß er Sie noch ein paar Tage zur Beobachtung hierbehält. Auf jeden Fall werde ich dem Chef meine Ansicht darlegen. Einen Haken hat die Sache allerdings: Den Namen und die Adresse der bewußten Dame müssen Sie schon preisgeben. Es bleibt ohnehin Dienstgeheimnis…«
Namen und Adresse preisgeben – ich kam aus dieser Zwickmühle nicht heraus. Woher ein Mädchen nehmen, das bereit war, die Sünde auf sich zu nehmen? Meine Geliebte lebte in ahnungsloser Unschuld auf einem Jupitermond. Ich verwünschte die Stunde meiner Rückkehr. Allmählich wuchs in mir die Überzeugung, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein.
Kurz nach siebzehn Uhr wurde ich in das Dienstzimmer des Oberarztes Hauschild gebeten. Zuerst glaubte ich, es ginge schon um meine Entlassung, doch der Oberarzt, ein hagerer Mensch mit immer forschenden Augen und einer unverbindlich trockenen Stimme, reichte mir nur den Telefonhörer. »Ihre Frau«.
Johanna entschuldigte sich. Sie sei erkältet und deswegen nicht gekommen. Ich glaubte es ihr nicht, denn ihre Stimme klang normal, doch angesichts des Oberarztes wollte ich keine Fragen stellen. Mich nährte noch immer die Hoffnung, daß Fritzchen zum vereinbarten Termin landen würde. Gelang es mir nicht, bis dahin das Sanatorium zu verlassen, konnte nur noch meine Frau eine Wendung herbeiführen. Auf irgendeine Weise mußte ich sie bewegen, diese entscheidende Nacht auf Manik Maya zu verbringen. Wie ich sie dazu bringen konnte, war mir selbst noch nicht klar. Ich beschwor sie, mich unter allen Umständen am Samstag zu besuchen. Johanna versprach mir, bestimmt zu kommen.
Als ich den Hörer auflegte, erkundigte sich Hauschild nach meinem Befinden, eine Routinefrage. Ich versicherte, mich ganz ausgezeichnet zu fühlen, fragte ihn, ob er nicht einen Tag Urlaub bewilligen könne, da meine Frau erkrankt sei. Doch der Oberarzt durchschaute meine Absicht und vertröstete mich auf den Samstag, an dem mich Johanna besuchen wollte. Ich hatte mich in wenigen Tagen schon so akklimatisiert, daß ich seinen Hinweis ohne Protest zur Kenntnis nahm.
Die zwei Tage bis zur nächsten Besuchszeit kamen mir länger vor als mein Aufenthalt auf dem sechsten Mond. Ich bat Schwester Hildegard um ein Buch. Aufregende Lektüre zu lesen war den Patienten nicht gestattet. Dazu gehörte so ziemlich alles, was es an Literatur gab.
Sie brachte mir »Früchte des Waldes«.
Mit stoischem Eifer las ich über Blaubeeren, Himbeeren, Brombeeren, Walderdbeeren und Pilze. Ich träumte davon, kultivierte den sechsten Mond mit unseren Waldfrüchten, die man in der Fachsprache Vaccinien nannte, die sogenannte dikotyle Pflanzengruppe, eine Unterfamilie der Ericaceen. In stummer Verzweiflung las ich, daß zum Beispiel die Heidelbeere zumeist auf niedrigen Sträuchern reifte, welche von verschiedenem Habitus waren, in der Regel mit wechselständigen, kurzgestielten, leder- oder hautartigen wintergrünen Blättern, einzeln häufig in axillaren oder terminalen Trauben stehenden Blüten und kugeligen Beeren…
Am Samstag hatte ich die »Früchte des Waldes« durchgeochst. Die Furcht, Johanna könnte mich
Weitere Kostenlose Bücher