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Zeit der Sternschnuppen

Zeit der Sternschnuppen

Titel: Zeit der Sternschnuppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Ziergiebel
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ausgetrocknet; ich hatte das Empfinden, tagelang geredet zu haben.
Wie lange ich so schweigend verharrte, wurde mir nicht bewußt. Ich lag wie in einer Ohnmacht, war ohne Willen. Mein Hirn, ferngesteuert, schien sich in der Macht anderer zu befinden.
Nach einiger Zeit erging an mich abermals die Aufforderung zu sprechen. Diesmal stand ich selbst im Mittelpunkt des Themas. Von einem unwiderstehlichen Zwang getrieben, sprach ich über Erlebnisse, an die sich ein Mensch normalerweise gar nicht zu erinnern vermag. Ich schilderte Episoden aus meinen ersten Lebensjahren, sagte Mama und Papa, erläuterte, wie ich das Laufen erlernte und andere lächerliche Begebenheiten. Manchmal lächelte ich dabei, denn mein Vokabular hätte aus einem Kindergarten stammen können. Ich plapperte unentwegt, überzeugt, daß alles nur ein komischer Traum sei. Jahr um Jahr zog im Zeitraffertempo an mir vorüber; ich wurde Zeuge meiner eigenen Vergangenheit.
Merkwürdige Dinge waren darunter, Szenen aus meiner Schulzeit, Unterrichtsstunden, bei denen ich mich vor dem Zorn des Lehrers fürchtete. Ich schimpfte auf die Mathematik, nannte sie eine Hexe mit krummen Beinen. Mir behagte dieser Zwangstraum nicht, aber ich kam nicht los davon, erzählte vom Gesangsunterricht, von dem kahlköpfigen Musiklehrer Pieper, der ohne Stimmgabel in der Rechten nicht vorstellbar war. Es erging eine Aufforderung an mich, zu singen. Ich protestierte, wäre immer Brummer gewesen. Vergebens, ich mußte singen. Gleich darauf hörte ich mich krächzen: »Ei, wie schmeckt der Kaffee sühühüße – süßer noch als tausend Kühühüße…«
Ich fand das furchtbar komisch, denn ich sah mich als Erwachsenen in der Schulklasse, vorn dirigierte Pieper.
Eine Ruhepause trat ein. Ich mußte schweigen, bis nach einer Weile erneut eine fremde Macht auf mich einwirkte, mich zum Reden zwang. Es war, als ordneten sich meine Gedanken von selbst zu dieser oder jener Frage oder Antwort. Selbst meine Privatsphäre der letzten Jahre war Gegenstand dieses Frageund-Antwort-Spiels. Wer entriß mir diese Beichte?
Ein Leben lang, so erschien es mir, hatte ich gesprochen. Alles Wissen, das sich bewußt oder unbewußt in mir aufgespeichert hatte, war über meine Lippen gekommen. Dann geschah etwas Neues. Es war ein Sichzurückfinden, ein Hinüberdämmern in einen traumlosen Schlaf. Ich fühlte mich erschöpft und elend.
    Das erste, was ich wieder mit vollem Bewußtsein zur Kenntnis nahm, war eine Hand, die schlaff auf meinem Bauch lag. Ich beobachtete sie, sah, wie sie langsam herunterrutschte. Erst jetzt merkte ich, daß es meine eigene Hand war.
    Allmählich kehrten Erinnerungen zurück. Ein Wald tauchte in meinem Gedächtnis auf, das Bauernhaus, die Wiese, Manik Maya. Immer mehr Bilder knüpften sich zu einer Kette, in der noch einige Glieder fehlten. Da war das Raumfahrzeug gekommen; ich war eingestiegen – und dann? Was war danach mit mir geschehen? Vergeblich bemühte ich mich, die Gedächtnislücke zu füllen. Und was war jetzt? Wo bin ich? grübelte ich.
    Ich bemühte mich, das Dunkel, das mich umgab, zu durchdringen. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis. Immer deutlicher nahm ich die Konturen meines Aufenthaltsortes wahr. Ich lag unter einer Kuppel, vier bis fünf Meter im Durchmesser, die Wandung aus rubinrotem Material. Nirgendwo ein Fenster, auch Möbel waren nicht zu sehen. Es war still wie in einer Grabkammer – und doch hatte ich das Empfinden, nicht allein zu sein. Ich gab mir Mühe, sachlich zu denken. Sie haben dich mitgenommen – folglich mußt du dich jetzt irgendwo im All befinden, auf einer Kreisbahn um die Erde… Mein nüchterner Aufenthaltsort bestärkte mich in meiner Vermutung. Der Raum zeugte von der selbstverständlichen Zweckmäßigkeit eines technischen Rationalismus.
    Es ist wohl am besten, wenn du dich jetzt meldest, sie werden nicht wissen, daß du erwacht bist. Wenn sie aber kamen und mich begrüßten, erfordert dies eine Erwiderung. Was antwortete ich ihnen? Ansprachen waren nie meine Stärke gewesen, aber etwas mußte ich sagen. Vielleicht »Teure Freunde…«? Nein, viel zu irdisch. Es mußte sachlich sein, etwas über den Aufbau der Materie – schließlich waren wir alle aus dem gleichen Urstoff gemacht…
    Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen. Ich vernahm ein Geräusch, das meine Sinne in Hochspannung versetzte. Es hörte sich an wie ein Schnaufen. Mein Gefühl, mich nicht allein in diesem Raum zu befinden, hatte mich nicht

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