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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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einmal ganz von vorn anfangen. Trübsinnig werden könnte man, Bruder«, wiederholte er.
    Paul konnte lange nicht einschlafen. Abenteuerliche Rettungspläne dämmerten ihm durch den Sinn und verblassten wieder. Schließlich rief er schon halb im Traum: »Verdammte Zeiten!«
    Erschreckt schrie der kleine Hubert auf. Eine Weile hörte Paul nicht mehr die ruhigen Atemzüge des Kindes. Er lauschte, begann sich schon zu sorgen, aber dann vernahm er sie wieder, regelmäßig, tief.
    »Ich seh’s dir an«, sagte sein Vater am nächsten Morgen, als sie am Frühstückstisch saßen, »Georg hat geschwatzt.«
    Als Paul schwieg, nickte er und sagte: »Es ist so. In vier Wochen ziehen wir zu Johannes nach Leschinen. Alles weg, das hier.« Er hob seinen Arm und zeigte rundum. »Alles das ist in vier Wochen weg.«
    Während Paul versuchte, Franziska in ein paar Sätzen zu erklären, um was es ging, senkte sein Vater den Blick und starrte vor sich auf die Tischplatte.
    »Nichts zu machen?«, fragte Franziska.
    »Nein, Tochter, es ist nichts mehr zu machen«, antwortete Lukas Bienmann leise. Aber dann atmete er tief und fuhr fort: »Aber irgendwie wird’s schon weitergehen. Noch sind Lisa und ich bei Kräften. Wir werden dem Johannes drüben in Leschinen eine Hilfe sein. Vielleicht ein paar Jährchen noch.«
    »Du sagst das so leicht dahin, Vater«, sagte Franziska, »so, als ob es dir nicht viel ausmacht. Das herrliche Haus, die Standuhr in der Wohnstube, die Bilder von deinem Vater Karl Bienmann, der in Amerika geblieben ist …«
    »Du weißt ja schon viel von unserer Familie.« Lukas Bienmann lächelte, wurde aber gleich wieder ernst und sagte: »Doch, es macht uns etwas aus. An jedem dieser Dinge klebt ein Stück Erinnerung. Die Uhr beispielsweise habe ich in einen Berg von Schafswolle gesteckt, als ich mit meinen Männern und mit Pferd und Wagen 1894 in Moskau aufgebrochen bin. Länger als ein Jahr waren wir unterwegs. Von Baustelle zu Baustelle sind wir gezogen. Einen ganzen prallen Beutel voller Goldrubel habe ich verdient und wollte meiner Lisa etwas Schönes mitbringen. Vielleicht eine Uhr. Mein Schwiegervater hatte in seinem Haus eine Standuhr. Die sollte die Lisa erben, wenn er gestorben war. Aber dann ist ihm das Haus niedergebrannt, kurz nach unserer Hochzeit, und von der Uhr waren nur ein paar zusammengeschmolzene Metallteile übrig geblieben.
    In Moskau lernte ich einen deutschen Uhrmacher kennen. Der hat dieses Kunstwerk hier gebaut. Sie zählt mehr als die Stunden, zeigt an, wann Vollmond ist und wann die Sonne aufgeht. Das Gehäuse ist aus Walnussholz und das Zifferblatt von einem guten Maler eigens für diese Uhr gemalt. Ich habe viele, viele Rubel bieten müssen, bis er endlich gesagt hat: ›Also, nimm die Uhr mit, Lukas Bienmann. Nicht, weil du mir viel Geld dafür zahlen willst, sondern ich verkaufe sie dir, weil ich sehe, dass du dein Herz daran gehängt hast.‹ So ist die Uhr ins Haus gekommen und sie läuft seit bald dreißig Jahren auf die Minute genau.
    1894 ist unser Sohn Thomas geboren worden. War ein stilles Kind. Schon als kleiner Kerl hat er oft und lange vor der Uhr gesessen und geschaut, wie die Zeiger weiterziehen. Später hat er auch das Gehäuse geöffnet mit zarten Fingerchen, ganz behutsam, hat niemals was zerbrochen, weißt du. Bestaunt hat er das Werk mit den 100 blanken Messingrädern. Damals schon stand für ihn fest: ›Ich will Uhrmacher werden‹, und war doch vielleicht erst zehn Jahre alt. Ist’s ja dann auch geworden. In Königsberg hat er gelernt und ist, kaum dass der Krieg ihn aus den Klauen gelassen hat, auf Wanderschaft gegangen. Es ist bei den Uhrmachern wie bei den Zimmerleuten, nur von wirklichen Meistern kannst du was lernen.«
    Lukas stand auf und fuhr mit den Fingerspitzen sanft über das Uhrengehäuse.
    »Du sagst es, Vater, du hast dein Herz daran gehängt.« Franziska suchte seinen Blick.
    »Das war damals, Tochter. Lang ist’s her. Als ich nach Hause kam, machten unsere Zwillingstöchter Elisabeth und Gertrud gerade die ersten tapsigen Schritte und ich hatte die Kinder vorher noch nicht gesehen. Damals, ja, damals hängten Lisa und ich das Herz an dies und das. Dann wirst du älter, Tochter, und du begreifst ganz allmählich, dass du es lernen musst loszulassen. Die Kinder erst. Das fällt schwer, Tochter, fällt schwer zu begreifen, dass sie dir nicht gehören, dass sie nicht dein Eigentum sind. Aber das hab ich von meinem Großvater, dem alten Friedrich Bienmann,

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