Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
die Flaschen auf den Tisch und sagte: »Diesen Schnaps leihe ich dir. Gib ihn mir irgendwann zurück, wenn die Zeiten wieder besser sind. Ich rate dir, sauf sie nicht selber leer, sondern steck sie dem Willi Rath zu. Heimlich, sodass keiner etwas davon sieht. Ich wette, es dauert keine weitere Woche, bis du auf der Werft anfangen kannst.«
»Aber der Karl wird doch mit Willi reden«, wandte Paul ein.
»Worte sind gut, Schnaps ist besser. Jedenfalls bei Willi Rath.«
»Und warum tust du mir diesen Gefallen, Jakob? Wir kennen uns doch erst kurze Zeit.«
»Der Karl ist mir schon lange bekannt. Ich kenne ihn so gut, dass seine Freunde meine Freunde sind.«
Frau Krebber, die mit Bruno hereinkam und die letzten Sätze gehört hatte, lachte: »Mein edler Jakobus! Siehst du, Paul, so hat er bei mir auch Süßholz geraspelt. Und ich bin ihm auf den Leim gegangen und habe ihn geheiratet. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Damals brauchte er einen Matrosen und wenn es auch ein weiblicher war. Jetzt braucht er wahrscheinlich Freunde in der Werft, damit er bei der nächsten Havarie keine Woche lang zu warten braucht.«
»Du bist ein Biest, Henriette«, lachte Jakob und zog seine Frau auf den Schoß.
»Überlege es dir, Paul, ob du Franziska weiter nachsteigst. Eine kluge und tüchtige Frau, das ist ein Gräuel für einen Mann. Immer wirst du gleich durchschaut.«
Sie fuhr ihm mit den gespreizten Fingern durch die Locken.
»Aber ihr liebt euch doch!«, fuhr es Bruno aus dem Mund. Er wurde ziemlich verlegen.
»Du hast es erfasst«, polterte Jakob fröhlich. »Aber was weißt du schon von Liebe! Hast wohl auch ein Auge auf einen Rock geworfen, wie?«
»Ich werde nie heiraten«, stieß Bruno hervor. »Nie, nie!«
Sie brachen in Lachen aus und übersahen, dass Bruno das Wasser in den Augen stand.
Genau eine Woche später kam Karl auf einen Sprung zu den Reitzaks und sagte zu Paul: »Ich hab mit Willi gesprochen. Kannst nächste Woche anfangen.«
Paul freute sich, packte Karl bei den Schultern und bedankte sich. »Mensch, Karl, du wirst verrückt, wenn du hier ohne Arbeit herumsitzt!«
Nach einer Weile fragte Paul und verbarg dabei nur mühsam ein Schmunzeln: »Hatte der Willi eine Schnapsfahne?«
Karl schaute Paul aufmerksam an und behauptete: »Willi trinkt niemals in der Werft.«
Eine kluge Antwort, dachte Paul.
Jede freie Minute verbrachte Bruno im Pferdestall der baronschen Brauerei. Dieser Stall hatte ihm gleich in der ersten Woche, in der er bei den Reitzaks untergeschlüpft war, eine Zuflucht bedeutet, Zuflucht vor einer Gruppe von Kindern und Halbwüchsigen aus der Blütentalstraße.
Es ist nie jemand gelungen, die Sterne des Himmels und die Kinder der Blütentalstraße zu zählen, konnte man in der Stadt oft sagen hören, aber was die Zahl der Kinder anging, war das eine maßlose Übertreibung. Schließlich zählte die Blütentalstraße höchstens dreißig Häuser. Dennoch war der Ruf dieser Kinder in einer Hinsicht gerechtfertigt: Wenn sie sich auch untereinander oft stritten – sobald einer auftauchte, den sie nicht kannten, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Mochten ihre Eltern evangelisch oder katholisch, politisch ganz links oder weit rechts stehen, eines der Häuser besitzen oder zur Miete wohnen: Die Kinder fühlten sich zusammengehörig, spielten die gleichen wilden Spiele miteinander, sangen an warmen Sommerabenden mit den älteren Leuten die gleichen Lieder, hörten die gleichen Geschichten vom Krieg, von der alten Zeit, von Gespenstern und Erscheinungen, von Hass und Liebe, Glück und schlimmem Schicksal.
Dem Drehorgelspieler, der einmal im Vierteljahr durch die Straße zog und der einen Affen abgerichtet hatte, ihm die Münzen einzusammeln, dem gaben sie mit leichter Hand die wenigen Kupferpfennige, die sie besaßen. Aber mit dem Brausefabrikanten Kohl – sechstausend Flaschen die Woche – feilschten sie hartnäckig und verbissen, wenn er sie zum Spülen der Sprudelwasserflaschen oder zum Abfüllen seiner Limonaden gewinnen wollte. Sie streichelten mit den Fingerspitzen zart das Kätzchen, das, von einem rohen Fußtritt getroffen, mit gebrochenen Rippen in einer Fensternische hockte, und stießen hart mit ihren Fäusten zu, wenn sie sich bedroht fühlten.
Trotz aller Kämpfe innerhalb der Hackordnung waren sie voller Vertrauen zueinander und misstrauisch gegen jeden, der ihnen fremd war.
Bruno war ihnen fremd. An den ersten beiden Tagen hatten sie ihn nur aus den Augenwinkeln
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