Zeiten des Verlangens
Romane.«
Sebastian nickte. »Vielleicht entdeckst du ja den nächsten Tom Perrotta.«
Sie musterte ihn argwöhnisch. »Machst du dich über mich lustig?«
»Nein«, sagte er lächelnd und schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich? Jemand wird den nächsten großen Schriftsteller entdecken. Warum nicht du?«
»Ich weiß nicht.« Regina wusste noch immer nicht, ob er es ernst meinte.
Der Wagen schob sich langsam durch den dichten Verkehr in nördlicher Richtung durch Manhattan.
»Darf ich dich etwas fragen?«, hob Sebastian an. »Warum bist du nach New York gezogen?«
»Um in der Bibliothek zu arbeiten«, antwortete sie im Brustton der Überzeugung.
»Und das ist der einzige Grund?«
»Äh, ja.« Auf einmal geriet ihre Überzeugung ins Wanken. »Reicht das denn nicht?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete er. In seinen dunklen Augen lag etwas Herausforderndes. »Tut es das?«
Regina fühlte sich in die Ecke gedrängt und drehte reflexartig den Spieß um.
»Und warum bist du hierher gezogen?«
»Ich bin nicht hergezogen. Ich komme von hier. Aber wäre dem nicht so, würde ich sicherlich trotzdem hier wohnen. Und die meisten meiner Bekannten, die nicht von hier kommen, können gar nicht schnell genug hier herziehen – um sich einen Namen zu machen.«
»Vielleicht laufen sie ja auch vor etwas davon«, bemerkte Regina und dachte an ihre Mutter. Sofort bereute sie ihren Kommentar, aber glücklicherweise hakte er nicht nach.
»Also hast du nie über eine Karriere als Schauspielerin oder Model nachgedacht?«
Regina verschränkte die Arme. Jetzt war sie sicher, dass er sie verschaukelte. »Nein«, erwiderte sie kühl.
»Interessant«, meinte er. »Die meisten Frauen mit deinem Aussehen hätten das. Ich kann gar nicht glauben, wie wenig du dir deiner Schönheit bewusst bist.«
Sie spürte, wie sie errötete. Es war nicht so, dass sie noch nie ein Kompliment bekommen hätte. Sie hatte oft gehört, wie hübsch ihre Augen oder ihr Haar seien. Man hatte sie »süß« genannt, und sie hatte sich nie um ihre Haut oder ihr Gewicht gekümmert wie viele ihrer Freundinnen. Doch sie war nur mittelgroß, ihre Nase zu breit und die Oberlippe zu dünn, um je so verführerisch zu sein wie eine Scarlett Johansson oder Kim Kardashian oder Angelina Jolie. Jedenfalls hatte sie noch nie das Gefühl gehabt, das Objekt echter Begierde zu sein, vielleicht zum Teil deshalb, weil sie sich irgendwie als unwürdig empfand.
Der Verkehr ließ nach, und sie fuhren die Park Avenue entlang. An der Kreuzung East 57 th Street bog der Fahrer Richtung Fifth Avenue ab und hielt vor einem Gebäude, das Regina sofort erkannte – dem einundfünfzigstöckigen Four Seasons Hotel, entworfen von I.M. Pei. Sie kannte einige Bauwerke von I.M. Pei, weil er zu den Lieblingsarchitekten ihres Vaters gehörte.
Ein Hotelportier öffnete die Autotür. Sebastian stieg aus und bot ihr die Hand an. Sie zögerte, bevor sie zugriff, doch selbst ihre instinktive Zurückhaltung konnte nicht verhindern, dass seine Berührung sie durchzuckte wie ein elektrischer Schlag.
Er führte sie in eine Lobby im Stil des Art déco, in hellem Sandstein gehalten und mindestens zehn Meter hoch.
»Ich warte hier auf dich«, erklärte er und reichte ihr eine Schlüsselkarte. »Die ist für Zimmer 2020.«
Sie sah die Karte an, nahm sie aber nicht. »Ich verstehe nicht.«
»Du hast doch nicht geglaubt, dass du in dieser Kleidung zum Essen gehen kannst, oder?«, fragte er. Regina fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und wusste nicht, welches Gefühl stärker war, ihre Verlegenheit oder ihre Wut.
»Wenn meine Kleidung nicht angemessen für das Restaurant ist, sollten wir vielleicht einen anderen Ort wählen.«
Er schaute sie an, ernst und herausfordernd, ein Blick, den sie langsam schon von ihm gewohnt war. »Wirklich? Ich dachte, jemand mit deiner Wissbegierde will vielleicht noch eine andere Seite vom Leben kennenlernen.«
Sie dachte an die Angst, die sie zeitlebens begleitete. Die Angst davor, was passieren würde, wenn sie etwas falsch machte, wenn sie nicht auf Nummer sicher ging, wenn sie nicht die Beste war. Und gleichzeitig befürchtete sie, etwas zu verpassen – immer nur Zuschauer zu sein.
Sie nahm die Schlüsselkarte.
10
Der Flur im zwanzigsten Stock war ruhig. Regina schlich über den Teppich mit dem bestimmten Gefühl, dass sie gleich jemand ansprechen und fragen würde, was sie hier verloren hatte. Doch niemand stellte sich ihr in den Weg.
Sie fand
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