Zeiten des Verlangens
Scheidung war sie bei ihren Eltern im Ausland, fast ein Jahr lang. Mir blieb kaum eine Wahl. Sie war erst seit ein paar Monaten zurück, als er ihr den zweiten Schlag versetzte. Und diesmal war es meine Schuld.«
»Oh, Sebastian – du warst ein Teenager. Und Astrid war vermutlich kaum mehr als eine Teenagerin.«
»Nachdem ich bei meinem Vater ausgezogen war, verdächtigte mich meine Mutter, dass ich mich heimlich zu ihr stahl – und sie hatte recht. Das Verhältnis zu meiner Mutter wurde immer schwieriger – ich log sie an, stritt mit ihr. Und dann hat sie sich umgebracht.«
Regina stockte der Atem. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Erschrocken stellte sie fest, dass er den Tränen nah war.
»Sebastian, sag mir nicht, dass du dir die Schuld dafür gibst.«
»Nein, das tue ich nicht«, sagte er, doch sein Gesicht sagte etwas anderes.
Regina küsste ihn auf die Wange und schmeckte das Salz frischer Tränen. Sie schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich, und er vergrub das Gesicht in ihrem Haar, sammelte es in seinen Händen, wie einen Strick, an dem er sich verzweifelt festhielt.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte sie und streichelte seinen Kopf. Irgendwie bewirkten ihre Worte einen Dammbruch, und er schluchzte wie ein Kind in ihren Armen. Sie merkte, dass sie alles tun würde, um ihm diesen Schmerz zu nehmen.
»Meine Agentin hatte Angebote von Verlagen, die ein Buch mit meinen Aufnahmen von Astrid machen wollten. Aber ich kann es einfach nicht. Ich will sie nicht einmal mehr ansehen. Bei der Manning-Deere-Ausstellung habe ich nur zugestimmt, sie zu verwenden, weil es der Wunsch der Galerie war, und für mich die beste Gelegenheit, überhaupt auszustellen. Seitdem habe ich nie mehr Fotos auf diesem Niveau gemacht. Die Moderedakteure sehen diesen Unterschied nicht. Aber in der Kunstwelt erkennt man ihn.«
»Warum sagst du das? Ich habe deine Bilder in den Zeitschriften gesehen. Ich sehe die Fotos im Wohnzimmer.«
»Sie sind okay. Aber sie sind nichts Besonderes. Und sie sind definitiv nicht inspiriert. Ich dachte immer, das liege daran, dass Astrid einfach das beste Model war. Zumindest habe ich versucht, mir das einzureden. Aber ich kannte den wahren Grund, und das machte sich in meiner Arbeit bemerkbar. Deshalb wollte ich dich auch unbedingt fotografieren, Regina.«
»Warum?«, hauchte sie.
Er hob den Kopf und nahm ihr Gesicht in die Hände. Sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Seine Wimpern waren feucht, und sie hatte den Drang, die Lippen daraufzupressen.
»Weil ich zum ersten Mal seit Astrid wieder verliebt bin.«
41
Am Fuß der Stufen zur Bibliothek blieb Regina noch einmal stehen, drehte sich um und winkte Sebastian. Er ließ das Seitenfenster herunter und rief: »Ich hole dich um sechs Uhr ab.«
»Okay«, sagte sie und sah zu, wie der schwarze Mercedes im Verkehr der Fifth Avenue verschwand.
Gefühlsmäßig befand sie sich auf einem Höhenflug, wie sie ihn noch nie erlebt hatte, doch körperlich sah die Sache etwas anders aus. Alles tat weh – der Rücken, die Füße, die Arme. Und so rückte sie vor dem steinernen Löwen Geduld – oder war es Standhaftigkeit – erst einmal die Riemchen ihrer hochhackigen Sandalen und die Tasche über ihrer Schulter zurecht, bevor sie sich an den langen Aufstieg zum Eingang machte.
Es war nach Mittag. Um sieben hatte sie die Weckfunktion ihres Handys aus dem Schlaf gerissen, und sie hatte in der Bibliothek angerufen und Sloan die Nachricht hinterlassen, dass sie sich nicht gut fühle und deshalb ein bisschen verspäten würde. Dann hatte sie weitergeschlafen bis um elf, war dann aufgesprungen und hatte einen Rekord im Schnellduschen aufgestellt. Sebastian führte sie zu seinem Schrank, wo sie eine Prada-Bluse und einen Rock fand, an denen noch die Preisschilder hingen. Eilig hatte sie sich angezogen, und er war wie ein Geistesgestörter gerast, um sie noch vor der Mittagspause zur Bibliothek zu bringen.
Im Foyer war es kühl und ruhig. Regina atmete tief durch und sagte sich, dass es schon in Ordnung sein würde. Jeder war mal krank. Man ging zum Arzt. Man kam zu spät.
Sie joggte die große Treppe hoch, und das Vorhängeschloss schlug schwer gegen ihre Brust.
Die Tür zu Sloans Büro stand offen, und sie bemerkte Regina sofort.
»Sieh mal an, wer sich da aus dem Bett gewälzt hat, um uns zu beehren«, sagte Sloan. Regina schluckte. Sie wusste, dass diese Worte keine legere Ausdrucksweise waren. Sie waren feindselig, und sollte es
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