Zeitenlos
Erfüllung hätte geben können. Du hast dich bei mir bedankt, weil ich ein so guter Patient gewesen sei und mir geraten, immer richtig zu handeln, denn meine Veränderung sei nicht ohne Grund geschehen. Unterschrieben hast du mit ›In Liebe, Amelia‹.
»Warum hat dich das verrückt gemacht?«
»Weil das nur bedeuten konnte, dass auch du erkrankt warst. Du hast an derselben Krankheit wie meine Mutter gelitten und dich wie sie von mir ferngehalten, damit ich mich nicht anstecken konnte. Ich rief immer wieder nach dir und versuchte, mich zu konzentrieren, um mein Zeitgefühl nicht zu verlieren, aber dann sagte Dr. Thomas mir, dass du gestorben bist. Als Reaktion versank ich in einem Fieberwahn. Sophie, du hattest dich anderthalb Jahre um mich gekümmert, und als du krank wurdest und schließlich starbst, war ich noch nicht einmal in der Lage, dir den letzten Respekt zu erweisen.«
»Wes, ist dir klar, wie viele Menschen damals an dieser Epidemie starben? Es war meine Bestimmung, und es wäre dir auch passiert, wenn man dich nicht isoliert hätte. Und wo wären wir dann heute?«
»Sophie, ich werde nicht krank. Ich bin gegen alle bekannten Krankheiten immun.«
Ich fühlte, wie er sich langsam von mir zurückzog, und das wollte ich nicht zulassen. Deshalb versuchte ich, das Thema zu wechseln.
»Ich bin aber doch hier, oder?«
Er zog mich dicht zu sich heran und küsste mich sanft auf den Kopf. Eine Weile lagen wir so im Dunkeln, aber dann gewann meine Neugierde die Oberhand.
»Was bin ich also? Eine Art Wiedergeburt?«
»Das habe ich mich schon viele Male gefragt und keine Antwort gefunden. Ich habe außer dir niemanden aus der Vergangenheit wiedergetroffen. Das Ganze ergibt keinen Sinn.«
»Und warum warst du dir so sicher, dass ich Amelia bin?«
Ruhig antwortete er: »Sophie, lass uns mal annehmen, dass ich weggegangen bin und du dich dreißig Jahre nicht verändert hast. Dann stellen wir uns mal vor, dass du mich wiedersiehst und ich immer noch so alt bin wie jetzt. Würdest du mich nicht zweifelsfrei wiedererkennen?«
Darüber musste ich nicht lange nachdenken. »Ich würde dich niemals vergessen.«
»Eben. Und ich würde dich auch überall wiedererkennen.«
»Dann bin ich also doch wiedergeboren? Warum sonst sollte ich immer wiederkommen und mich an nichts erinnern?«
Wes strich mir erneut durchs Haar, und ich war froh, dass er sich ein bisschen entspannte. »An einige Dinge scheinst du dich aber doch zu erinnern.«
»Ja, aber nur, wenn du mir etwas erzählst, das bei mir Erinnerungen weckt.«
»Also, ich habe ziemlich viele Bücher über Menschen gelesen, die glauben, schon einmal gelebt zu haben. Doch das Einzige, was davon hängen geblieben ist, hat damit zu tun, dass diese Menschen überzeugt davon waren, ihre Lebensaufgabe noch nicht erfüllt zu haben. Sie waren der Meinung, dass sie zurückgekommen waren, um etwas zu erledigen. Woran sie sich erinnerten, spielte überhaupt keine Rolle – es ging nur um diese besondere Aufgabe.
Ich dachte darüber nach. Welchen Auftrag sollte ich erfüllen müssen? Wie sollte ich das wissen, wenn ich nicht einmal wusste, warum ich überhaupt da war? Ich überlegte angestrengt, um welche Bestimmung es sich handeln könnte. Dabei hatte ich doch schon genug Probleme damit, mit meinem gegenwärtigen Leben klarzukommen, ganz zu schweigen von einem, an das ich keinerlei Erinnerungen hatte. Ich lag in meinem Bett und ließ mein Leben Revue passieren – auf der Suche nach etwas Besonderem, was ich erreicht hatte.
In der dritten Klasse hatte ich einen Buchstabierwettbewerb gewonnen. Und in der neunten einen Preis in Kunst. Meinen Führerschein hatte ich im ersten Anlauf bestanden, und in den letzten zwei Jahren stand ich immer auf der Liste der Jahrgangsbesten. Doch das war alles ziemlich alltäglich. Ich musste tiefer graben. Was hatte ich anders gemacht?
Jede Antwort, die mir einfiel, hatte mit Wes zu tun. Der Landungssteg, dass ich ihm vertraut hatte und einfach nur mit ihm zusammen sein wollte. Immer wieder kam ich auf Wes, selbst wenn ich Amelia ins Spiel brachte, ging es um ihn. Hätte sie ihn nicht zu Dr. Thomas gebracht, wäre er gestorben. Der einzige gemeinsame Nenner zwischen Amelia und mir war Wes.
Ich richtete mich unvermittelt auf. Plötzlich verstand ich alles.
»Du«, flüsterte ich.
»Was ist mit mir?«, entgegnete er und setzte sich ebenfalls auf.
»Du bist es. Ich bin wegen dir hier. Überleg doch mal. Eigentlich solltest du gar nicht hier
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