Zeitreise ins Leben (German Edition)
geröteten Wangen, der fast ka h le Kopf und der leicht abstehenden Haarkranz, vervollständigten das typische Bild eines zei t genössischen Mönches. Seinem Aussehen nach war er dem Essen und Trinken nicht abg e neigt und das stand in einem gewissen Widerspruch zum kargen Klosterleben. Doch Bonif a zius war wohl eine Ausnahme für sich, denn in seinem Wesen, seinem Tun und seinem De n ken zeigte er überraschend wenig Strenge und zudem einen Weitblick, der mich verblüffte. Trot z dem warnte mich Hanna regelmäßig, nicht zu viel auszuplaudern oder zu fragen. Hanna hielt die Menschen des Mittelalters für engstirnig, übertrieben ängstlich und Neuem gege n über nicht aufgeschlossen . In der Regel führten sie ein hartes Leben, hatten ihre paar Wic h tigkeiten und Erkenntnisse und konnten mit Abweichungen kaum umg e hen. Dass sich die Erde im Jahr 1212 noch als Scheibe darstellte, war zum Beispiel ein Thema, das ich tu n lichst zu vermeiden hatte. Dabei ärgerte es mich vielmehr, dass ich völlig vergessen hatte, wer die Erde als rund bezeichnet und diese Erkenntnis schließlich bei der Kirche durchgesetzt hatte. Mein mangelndes Wissen erschütterte mich, obwohl ich wenigstens von Kopernikus und se i nem heli o zentrischen Weltbild wusste. Die Sonne als Mittelpunkt unseres Lebens war eine wisse n schaftliche Denkweise, die erst in ca. 200 Jahren zur Sprache kommen würde und die diesem Kopern i kus selbst dann noch das Leben kosten sollte. Großartige Männer und Frauen hatten schon immer für Wi s senschaft und Fortschritt gekämpft und dafür ihr Leben gelassen ... und wurden dennoch in meinem Jahrhundert oft vergessen. Vieles hatte ich in Geschichte lernen müssen, manches hatte ich mir sogar gemerkt, doch das Meiste war wohl in den u n endlichen Tiefen meines Hirnspeichers verloren. Geschichte als Schu l fach war mir bisher nie wichtig erschienen oder hatte sich als merk würdig darg estellt. Doch hier, im gelebten 13ten Jahrhundert, waren diese Nebensäch lichkeiten plötzlich extrem faszinierend und mit so l cher Leidenschaft behaftet, dass ich gar nicht anders konnte, als mich dafür zu interessieren. Gal i leo Galilei hat selbst am Sterbebett noch voll Inbrunst ein „und sie dreht sich doch ...“ g e keucht – gegen jeden Zwang und gegen jede Inquisition. Solch eine Begeist e rungsfähigkeit war aufregend, anziehend und durch und durch lebendig. Genau diese Inte n sität der Gefühle vermisste ich in meinem Jahrhundert. Wichtigkeiten und Werte waren offenbar einem Übe r maß an Auswahlmöglichkeiten zum Opfer gefallen. Die Wurzel allen Übels war für mich die teuflische Fülle als Zivilisationskrankheit meines Jahrhunderts. Denn eben diese Fülle ve r barg in sich eine Leere, die ich in besonders nachdenklichen Momenten als „Seelenfresser“ bezeichn e te.
In der wunderbaren Abgeschiedenheit des Klosters war es mir plötzlich möglich, ein paar der Gefahrenquellen für mein eigentliches Leben zu erkennen. Natürlich konnte ich mich we i terhin nicht aus der Verantwortung nehmen, doch es erleichterte die Sache u n gemein, diverse Störfaktoren zu identifizieren . Bequemlichkeit, Informations - und Technik wahn, die Vielzahl an Auswahlmöglichkeiten, der Konsumrausch , und, und, und. Ich war schier von den S o cken, wie viele Bewusstseinshemmer ich mit einem Mal erkennen kon n te. Selbst der Begriff Wegwerfgesellschaft schwirrte ständig in meinem Kopf, zeigte die Wertlosigkeit von Gege n ständen, Tieren, Pflanzen und Menschen. Massentierhaltungen, Massenkonsum, Massenve r blödung. Gut, manches war schon recht radikal überlegt, doch wie gerne hätte ich mit Bonif a zius über das 21te Jahrhundert geplaudert oder über das Phänomen der inneren Leere. Nicht auszudenken, was ich diesem Mann, trotz seiner ungewöhnlichen Weitsichtigkeit, damit a n getan hätte ! Selbst er hätte kaum Verständnis für eine Entwicklung aufbringen können, in der Filme und Reality-Shows Emotionen vorspielen mus s ten, nur um sie für das eigene Leben erle b barer zu machen.
Für mich war die Vielzahl der Erkenntnisse aber nicht nur auf das stille Klosterleben z u rückzuführen, sondern vor allem auf Bonifazius und sein philosophisches Wesen. S elbst wenn wir uns nicht über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten meiner Zeit unterha l ten konnten, so war er doch der Typ Mensch, der alleine durch seine stille Anwesenheit diese G e dankenflut in mir auszulösen
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