Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
staunten. Bürofenster öffneten sich, Köpfe erschienen, lehnten sich heraus und schauten nach oben. Nun sah ich auch Menschen auf Hausdächern, einen Block vor uns hatte ein kleiner roter Straßenbahnwagen angehalten, und alle Fahrgäste, auch der uniformierte Schaffner und der Fahrer stiegen aus. Frank begann zu fluchen – »Verdammt … Passen Sie auf, Sie Dummkopf! … aus dem Weg hier! … Madam, würden Sie bitte Ihr Kleid aus den Speichen nehmen!« – während immer mehr Menschen auf die Straße traten, nach oben schauten und andere herbeiwinkten. Die Männer hatten ihre Hüte und Mützen abgenommen und schwenkten sie in der Luft; einige von ihnen riefen sogar »Hurra, Hurrra!«
›… ganz Manhattan war verrückt nach dem Luftschiff‹, schrieb mein Blatt, die New York Times, am nächsten Morgen. ›Die Neuigkeiten vom Erscheinen dieses seltsamen Himmelsobjekts verbreiteten sich schnell von Harlem bis zur Battery. Von seinem luftigen Aussichtspunkt, dreihundert Meter über dem Meeresspiegel, war es dem Luftnavigator gleichermaßen möglich, die Freiheitsstatue und Grants Grabmal zu sehen, sowie alles, was dazwischen lag. … Er wiederum wurde von den kleinen menschlichen Ameisen beobachtet, die er aufgeregt am Boden herumkrabbeln sah.‹
Nach dem Astor Hotel, einen Block vom Times -Building entfernt, mussten wir stehen bleiben und wurden, wie alle anderen Autos, Droschken, Kutschen und Straßenbahnwagen auch, die stecken geblieben waren, zu einer Insel inmitten der in den Himmel starrenden Menschenmenge. Frank stellte den Motor ab, dann sahen auch wir zu, wie Roy Knabenshue zum Times -Building segelte. Von dort konnten wir die Entfernungen nicht mehr richtig abschätzen, die Times aber schrieb am nächsten Morgen, dass ›er sich in einer Linie mit dem Times -Building, etwa fünfzehn Meter westlich des Turms, befand … Dann drehte er die Maschine so, dass sie mit der Nase direkt nach Osten zeigte. In dieser Position verblieb er lang genug, um die Grüße der Times -Belegschaft zu erwidern, die seinen Flug vom Turm aus verfolgten.‹ Wir sahen sie. Jedes Fenster in den oberen Stockwerken des Times -Building war geöffnet, Leute — zwei, drei, manchmal auch vier an einem Fenster – reckten sich hinaus und warfen Knabenshue staunende Blicke zu, der dort in der Luft hing. Wir sahen ihn winken, dann winkten die Frauen in den Fenstern mit ihren Taschentüchern, die Männer mit den Armen: Ich sah das Jotta Girl an und sie mich; wir beide nickten, lächelten ein wenig dümmlich und blickten dann wieder in den Himmel.
Knabenshue musste sein Ruder betätigt haben, denn einen Augenblick lang sahen wir die seltsame Gestalt seines Ballons als Silhouette. Das ist die Fotografie – sie wurde in demselben Augenblick vom Times -Tower aufgenommen –, die in der Times erschien; genauso haben auch wir ihn gesehen.
Plötzlich ergoss sich ein Schauer aus dem Ballon; einen Augenblick lang dachte ich, es sei Wasser, doch der Schauer wurde zu einer blitzenden Wolke, die für Wasser zu langsam fiel; ich erkannte, dass Knabenshue Papier regnen ließ.
»Muss über dem Times Square sein«, murmelte Frank. »Er hat die Gutscheine abgeworfen.«
»Gutscheine?«, fragte das Jotta Girl.
Frank nickte, während er noch immer Knabenshue beobachtete. »Ja, sind jeder einen Dollar wert.« Er blickte sie an. »Wenn Sie einen finden, dann bringen Sie ihn in das Büro der Zeitung, und Sie bekommen dafür einen Dollar. Werbung; sie bezahlen ihn dafür, deswegen ist er dort oben.« Frank lachte. »Er hatte sich den ganzen Morgen nicht recht wohl gefühlt – ich habe mit ihm telefoniert. Verdauungsprobleme. Ist unser New Yorker Essen nicht gewohnt!« Er lachte wieder. »Aber er braucht das Geld, deshalb ist er oben.«
»Oh, ich dachte, er tut es aus Liebe zum Fliegen«, sagte das Jotta Girl so enttäuscht, dass ich lächeln musste.
»Das tut er auch.« Frank stützte sich vor auf das große Holzlenkrad, um sie direkt anzublicken. »Er liebt die Fliegerei. Deswegen tut er es. Aber sie kostet Geld. Und um zu Geld zu kommen, fliegt er, sobald er morgens aus den Federn ist.«
Knabenshue flog weiter in Richtung Madison Square. Die Sonne spiegelte sich auf dem verrückten Stoffpropeller, und er wurde kleiner, schwand immer mehr, bis er nur noch ein schwarzer Punkt unter einem daumennagelgroßen gelben Fleck war. Dann bog er nach Osten ab, unterstützt von einer westlichen Brise; gelegentlich erschienen unter ihm kleine
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