Zicke
einfach vorbei.« Der Klang seiner Stimme beruhigte mich schon jetzt. »Meine Mom arbeitet heute von zu Hause, aber die wird uns nicht stören. Sie hat einen Clint-Eastwood-Marathon im Fernsehen.«
»Nennt sie das ›von zu Hause arbeiten‹?«
»Ich frag nicht nach.«
»In zehn Minuten bin ich da.«
Ich griff mir meine Jacke und versuchte mich unauffällig rauszustehlen, aber Dad war draußen vor dem Haus und werkelte an seinem Auto herum. Er blickte auf. »Wo willst du hin?«
»Jason.«
»Mit Lee?«
»Nein. Nur ich und Jason.« Ich hätte lügen und mir das ersparen können, was jetzt kam, aber ich hatte nichts zu verbergen.
Dad wischte sich die Hände an einem schmutzigen Lappen ab und kam näher. »Warum?«
»Weil Lee nicht kommen kann.«
»Warum nicht?«
»Weil sie beschäftigt ist.«
»Kannst du nicht mal einen Tag zu Hause bleiben?«
|80| Und was tun? In meinem Zimmer rumsitzen und mir wünschen, ich wäre anderswo? »Jasons Mom ist da.«
Dad ging zurück zu seinem Wagen und steckte den Kopf unter die Motorhaube. »Lee macht es nichts aus, wenn du mit Jason allein bist?«
Mir wurde heiß im Gesicht. Normalerweise rückte Dad nicht rundweg mit der Sprache raus und sagte solche Sachen, mit denen er mir klarmachte, was er von mir hielt. Meist war es das, was er
nicht
sagte, das wehtat.
Ich ging davon, ohne ihm zu antworten, die Straße runter, den Block entlang, dorthin, wo Jason wohnte. Je weiter ich mich von unserem Haus entfernte, desto besser fühlte ich mich.
Seine Mutter öffnete die Tür. »Hi, Deanna, ich kann gerade nicht mit dir reden. Clint ist dabei, den Fall zu lösen … Jason ist in seinem Zimmer.« Sie hastete zurück zum Fernseher.
Ich ging durch den Flur über den pfirsichfarbenen Teppich zu Jasons Zimmer – ein Weg, den ich praktisch mein ganzes Leben lang gegangen war, seit damals, als der Teppich noch brandneu war, bis heute, wo ein Läufer die Stelle verdeckte, auf der Jason in der fünften Klasse Modellfarbe verschüttet hatte. Auch Jasons Zimmer hat einen Geruch, der sich nie verändert hat. Es ist dieser zitronige, schweißige Jungengeruch. Er ist nicht ranzig oder so, nur irgendwie dunkel und tief, wie Orangenschalen, die in der Sonne liegengeblieben sind.
|81| Jason lag auf seinem Bett. Ich setzte mich auf den Boden. Ich stellte mir vor, wie mein Dad uns durch eine Überwachungskamera beobachtete und uns überrascht anstarrte, wie wir unschuldig fernguckten anstatt rumzuknutschen oder Koks zu schnupfen oder uns gegenseitig die Nippel zu piercen oder was mein Dad auch immer glaubte, das ich in meiner Freizeit anstellen würde.
Während der Werbung erzählte ich ihm von meinem Job, und ich war kurz davor, noch die Sache mit Tommy zu erwähnen. Aber irgendwie kam es nicht dazu. Vielleicht, weil ich noch nicht so weit war, darüber zu reden, vielleicht auch, weil es einfach genügte, mit Jason zusammen zu sein, damit ich das Gefühl hatte, alles sei okay.
» Ich
sollte mich um einen Job kümmern«, sagte er. »Andererseits hätte ich auch Lust, den ganzen Sommer mit Schlafen und Fernsehglotzen zu verbringen. Ja, das klingt gut.«
Wir räuberten den Kühlschrank und aßen am Küchentisch übrig gebliebene Spaghetti und Maischips. »Ich will nicht nach Hause«, konstatierte ich.
»Dann bleib«, sagte Jason. »Du kannst hier pennen.«
Als wir noch klein waren, hatte ich das häufig getan; ich war einfach bei Jason geblieben, als wäre er irgendeine Freundin, wir beide in unseren Schlafsäcken, Seite an Seite auf dem Wohnzimmerboden. Wir hatten mit Taschenlampen die Decke angestrahlt und Cracker über den ganzen Teppich gebröselt.
|82| »Lieber nicht.«
»Meiner Mom ist es egal.«
»Meinem Dad nicht.«
Er aß seine Spaghetti zu Ende. »Ich glaube, es ist noch Kuchen da. Magst du welchen?«
»Lass mich überlegen. Okay, ja.«
Ehrlich gesagt, das war es, was ich brauchte. Kein Ermunterungsgespräch, keine großen Worte über mein mangelndes Selbstvertrauen, keine zweistündige Aufarbeitung meiner ganzen Tommy-Ära. Nur Kuchen und das vertraute Gefühl von Jasons Teppich unter meinen Füßen, der Geruch seines Zimmers, sein Gesicht, die Geschichte unserer Freundschaft – überall, wo ich auch hinsah.
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Am nächsten Abend trieb mich Tommy im Kühlraum in die Enge, als ich gerade einen Eimer mit Pizzasoße auffüllte. Er baute sich direkt vor mir zu seiner ganzen Körpergröße auf. Mein Körper machte wieder Faxen, die Nerven flatterten, etwas
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