Zigeunerprinz
als Regierungsform in Europa hielt. Außerdem war er ein geübter Kämpfer und hatte Erfahrung im Schutz königlicher Häupter - oder in ihrer Beseitigung. Durch sein Haus strömten radikale Republikaner, Mitglieder des französischen Hofes, Legitimisten, die einen durch den Comte de Chambord personifizierten Bourbonen auf dem Thron sehen wollten, und nun noch Louis Napoleon, der Hoffnungsstrahl der Bonapartisten. Roderic schien niemandem ergeben, niemandem zugeneigt zu sein, und trotzdem sammelte er geflissentlich Informationen über alle. Warum?
Bald würde ein Ball stattfinden, an dem auch König Louis Philippe teilnehmen sollte. Roderic sollte dort, sollte an einem festgelegten Platz sein, wenn der König eintrat. Warum?
Warum'! Die Frage trieb sie zum Wahnsinn.
Wenn sie durch irgendein Wunder in der Lage sein sollte, die ihr zugewiesene Rolle zu spielen, und Roderic tatsächlich zum angegebenen Zeitpunkt am angegebenen Ort sein sollte, dann würde das, was geschehen würde, ihretwegen geschehen. Auch das nagte an ihr.
Wenn er nicht dort war, wenn nichts geschah, dann würde ihre Großmutter verletzt, vielleicht sogar getötet. Diese Bedrohung hing ständig über ihr.
Es mochte eine Stunde vergangen sein, als Juliana an die Tür pochte, sie dann aufriß und hereinlugte. »Gut, Sie sind noch angezogen. Kommen Sie! Schnell!«
»Was ist denn?«
»Sie liefern sich ein Rennen!«
»Wer?«
»Die Truppe natürlich. Auf der Seine. Nehmen Sie Ihren Umhang mit!«
Mara rappelte sich auf. »Sie müssen alle verrückt sein.«
»Zumindest betrunken, nehme ich wenigstens an.«
Die letzten Worte kamen nur noch gedämpft, denn Juliana hatte den Kopf bereits zurückgezogen und eilte den Korridor hinunter. Mara zögerte nur einen Augenblick. Dann schnappte sie sich ihren Umhang aus dem Schrank und rannte Juliana nach.
Die Nacht war kalt, und die Straßen waren glatt unter dem schmutzigen, halbgeschmolzenen Schnee, der im Schein der Laternen wie ein Band schwarzer Diamanten schimmerte. In Pelze gewickelt und unter zugeknöpften wollenen Überziehern schlitterten und rutschten die Gäste zu den Kutschen, die vor dem Haus warteten. Ein paar Kutscher wärmten ihre Pferde auf, führten sie auf der Straße auf und ab, damit sie in der Kälte keinen Schaden nahmen, deshalb quetschten sich alle in die wenigen Kutschen, die für die kurze Fahrt zum Flußufer zur Verfügung standen. Anfangs waren sie noch aufgeregt und durch den Wein erhitzt, aber die kalte Fahrt durch die dunklen Straßen, über die Place de la Bastille mit der Säule, die sich in den Nachthimmel reckte, bis dahin, wo sich die Pont d'Austerlitz über die Seine wölbte, dämpfte ihren Enthusiasmus. Schließlich verfluchten sie ihren unberechenbaren Gastgeber, obwohl sie immer noch lachend und bewundernd die Köpfe schüttelten. Man wußte nie, was Roderic als nächstes einfiel: Er hatte ein Quecksilbertemperament, nicht wahr? Gar nicht zu vergleichen mit den dumpfen und steifen Langweilern am Hof!
Es gab keine Übereinstimmung über den Grund für das Rennen. Anscheinend hatte es sich aus einer Diskussion über Bootsfahrten auf der Elbe ergeben, aber ob es die Folge einer
Wette, einer Herausforderung oder bloßen Überschwangs war, vermochte niemand zu sagen. Es schien keine ernsten Mißstimmungen zu geben, aber dennoch wurden die Männer in zwei Mannschaften aufgeteilt, deren eine der Prinz und deren andere der Preuße anführte.
Die Seine war die Lebensader von Paris, die wichtigste Verkehrsverbindung. Auf ihren grünbraunen Wassern wurde ein Großteil der Handelsgüter transportiert, einiges in kleinen Frachtern und dickbauchigen Barken, das meiste aber auf schmalen Booten mit flachem Heck und spitzem Bug, die mit Leichtigkeit unter den Bögen der vielen Brücken hindurchkamen. Diese kleinen Boote wurden normalerweise von einem Mann mit einem Heckruder gelenkt, manchmal aber gesellte sich ein zweiter Ruderer im Bug dazu. Die Schiffe gehörten den Fährleuten, deren Großväter und Väter schon mit solchen Kähnen gearbeitet hatten. Diese Boote wurden über Nacht in kleinen Flottillen überall auf dem Fluß angebunden, vor allem aber in der Nähe der Kais am Oberlauf des Flusses, wo die ankommenden Schiffe andockten. Roderic und die Truppe waren schon vorausgegangen, um die schlafenden Fährleute zu wecken und das Leihgeld für vier der Kähne auszuhandeln.
Die Boote warteten unter der Brücke. Jedes war mit einem Ruder im Heck und einem im Bug
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