Zigeunerstern: Roman (German Edition)
waren. Für dies, für seine Bereitschaft zum Nachgeben, liebte ich Julien. Jedoch, er hatte zu spät eingelenkt. Denn an unserem ersten Abend hatte er mir mit seinem Romano-Segensspruch der Verzeihung einen Splitter unter die Haut getrieben, und der bohrte sich nun unerbittlich in mein Fleisch.
Am Tag seiner Abreise von Mulano hatte ich fast erwartet, er werde noch einen allerletzten Versuch unternehmen und mich überreden wollen, mein Exil zu beenden. Die Worte steckten ihm direkt hinter den Zähnen, das spürte ich; doch er hielt sie in Schach und gab sie nicht frei.
Lange blickten wir einander wortlos an. Und ich verspürte in meinem Herzen ein starkes plötzliches Mitleid aufquellen. Ich sah auf einmal in seinen Augen die verzweifelte beißende Vereinsamung eines Mannes, dessen Geschlecht ausgestorben, dessen Volk nur noch ein Sehnsuchtstraum ist. Für Julien bestand das alles weiter: in der Fiktion der grande cuisine, der belle langue française, diesem Wunder aller Sprachen, und überhaupt der gloire, gloire française; aber Frankreich, La France ›die Schöne‹, würde ebenso wenig aus ihrem Sarg auferstehen, wie ein Fluss rückwärts zu seinem Ursprung fließen wird. Was für ein geheimes Martyrium, was für eine beständige Qual dies für Julien gewesen sein muss, dass er das genau wusste! Also vergrub er sich eifrig in die Geschäfte noch existierender ›Reiche‹, und vielleicht gewann er ja dabei irgendwie das Gefühl, durch sein diplomatisches Hin- und Herpendeln die Erinnerung an das ihm teure untergegangene Königreich wach zu halten. Armer Julien!
Stumm umarmten wir uns, und ohne ein Wort ging er von mir fort und bahnte sich mühsam den Weg durch den Wald der Schlingarme zu seinem Treffpunkt, wo er auf den Relais-Aufnehmer warten wollte. Als letztes sah ich, wie er bei einem der Bäume haltmachte und einen der elastischen Stämme tätschelte, als wolle er ihm wegen des angenehmen Geschmacks seiner saftigen oberen Auswüchse Komplimente machen.
8
Danach blieb ich lange allein. Ich brachte still meine Tage und meine Abende hinter mich und war mehr mit Gedanken an die Vergangenheit beschäftigt als mit solchen an die Zukunft. Sehr viel beschäftigte ich mich mit dem Tod. Und das war eigentlich sonderbar, denn ich hatte mich um den Tod nie viel gekümmert. Wozu sollte das auch gut sein? Gegen den Tod wehrt man sich, man fordert ihn heraus, aber man denkt doch nicht über ihn nach! Der Tod war mir mehrere Male sehr nahe gewesen, aber nicht ein einziges Mal glaubte ich wahrhaftig, dass er mich packen könnte, nicht einmal damals, als der Schlick von Megalo Kastro, der ein lebendiger Morast ist und gern Lebendiges frisst, sich an meiner bloßen Haut festsaugte. Vielleicht ist das deshalb so, weil es mein Leben lang immer die Geister und Spukgespenster um mich herum gegeben hat, die mir meine persönliche Zukunft berichten, allerdings tun sie dies in ihrer ganz besonderen, hinterhältig-gespensterlichen Art. Nein, ganz und gar nicht so, wie wir Roma das früher mit den Gaje machten, wenn wir sie reinlegten: ganz ohne Tarotkarten und ohne Kristallkugeln. Wenn dir nämlich ein Gespenst deine Zukunft sagt, dann bekommst du dabei einen Schauder der Gewissheit, dass du eine Zukunft haben wirst. Über lange Perioden meines jungen Lebens hin war einer dieser Schutzgeister, die mich ab und zu heimsuchten, mein eigener Geist. Er sagte das zwar nie, doch ich erkannte mich mehr und mehr selbst in ihm, denn er war überschwänglich, übersprudelnd, übermütig, und mit seinem Gelächter hätte er Welten in Scherben lachen können. Und so bin ich, genau so. So war ich immer, auch schon als junger Kerl und Rom, während ich mich mehr und mehr zu überwältigender Kraft und Lebenslust entfaltete. Was hatte ich für einen Spaß daran, ihn zu sehen, diesen wuchtigen Mann mit den breiten Schultern und der Brust wie ein Bierfass, mit dem dichten schwarzen Schnauzbart und den Glutaugen, der da aus den Nebeldünsten der Zeit zu mir herüberschwebte! Solange er mich begleitete, was hätte ich da fürchten sollen?
Doch jetzt kamen keine Yakoub-Geisterschaften zu mir zu Besuch, und ich hatte auch lange, lange keine von ihnen zu Gesicht bekommen. Allmählich fragte ich mich, warum dies so sei. War meine Zeit schon abgelaufen? War es soweit? Verdammt noch mal, nein! Aber trotzdem erlaubte ich mir diese makabre Vorstellung. Das ist ein ziemlich widerliches Vergnügen, wenn jemand sich den eigenen Tod vorstellt.
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