Zigeunerstern: Roman (German Edition)
Ich sah mich nach einem Tag auf dem Eis nach Hause kommen, schweißgebadet, unter der Last eines Beutetieres taumelnd. Und ich legte mich nur für ein paar Minuten hin, und ich spürte, wie etwas in meinem Körper ganz plötzlich versucht nach außen zu gelangen. Man lehrt uns das wichtige Eine Wort, wenn wir noch ganz jung sind, und dieses Eine, Einzig-Wichtige Wort lautet: Überlebe! Aber für jedes Ding und für jeden Mann kommt die Zeit, da dieses Wort nicht länger Gültigkeit hat, wenn das Streben nach Fortsetzung, nach Dauer, nach noch ein wenig Verlängerung nicht mehr angemessen ist, sondern zu stinken beginnt. Und wenn die Zeit für dich einmal gekommen ist, Mensch, dann ist es ein Aberwitz, dich dem entgegenstemmen zu wollen. Selbst für mich wird diese Zeit unweigerlich kommen, mag ich mich auch noch so sehr gegen die Tatsache sträuben wollen. Es macht mich wahnsinnig, dieses sichere Bewusstsein, dass ES, dass das Ende sogar auf mich zukommt. Aber hier – in meinen halluzinatorischen Vorwegnahmemechanismen – betrug ich mich ganz wunderbar gelassen, als der Tod zu mir kam. Was ist das? Wie sieht das aus, dieser Tod des Yakoub? Auf dieser trostlosen schneebedeckten Welt? Aha, ich verstehe. Nun gut, dann ist es jetzt an der Zeit. Kein Sträuben, kein Widerstreben mehr dagegen. Zu was für einem Philosophen sich doch ein Mann mausern kann, wenn ihm bewusst wird, urplötzlich, dass er nun wirklich keine Wahl mehr hat! Also stand ich da auf von meinem Sitz und ging hinaus und hob in dem Schnee mein eigenes Grab, aus und legte mich dort im Licht unseres Zigeunersterns nieder. Und ich bedeckte und begrub mich selbst und sprach selber die Worte über mich, ich weinte um mich, und dann tanzte ich und betrank mich – aus Trauer um mich selbst –, und kotzte das Getrunkene als Opfergabe über die makellose Brust des weißen Eisfelds, und ganz zum Schluss blökte ich die Totenklage über meinem eigenen Grab, den mulengo djili, den Bericht und Rechenschaftsbericht meines langen Lebens und meiner gewaltigen Großtaten. Und während ich all das in meinem Hirn durchspielte, hörte ich die Stimme des Rom-Yakoub, die mich fragte: Was soll der ganze Quatsch, Yakoub? Warum spielst du dir denn selbst solche Tricks vor? Aber ich konnte dem Yakoub keine Antwort geben, und wieder, immer wieder ertappte ich mich dabei, dass ich solche Gedanken in mein Hirn eindringen ließ, und ich bekenne euch, es machte mir auch noch Spaß, eine Art schäbiger Freude befiel mich bei dem Gedanken, bei dem So-Tun, dass es mir ja nun auf nichts und niemanden mehr ankomme, dass ich das Leben jetzt nicht mehr mit eisernem Griff am Schwanz festhielt, so fest, dass niemand mich zum Loslassen bewegen konnte, dass ich nun bereit war, mich niederzulegen und auszuruhen, weil ich endlich von allem bis zum Überdruss genug hatte.
Aber dann erschien mein dritter Überraschungsbesuch. Er kam gegen Mittag, und das ist für alle Roma die besondere Zeit, die Dunkelheit, der allergeheimnisvollste Augenblick des Tages.
Und dies war auch die Mitte des Doppeltags, begreift ihr, und deshalb ein zweifach seltsamer Augenblick, die Zeit, in der die beiden Sonnen Mulanos gleichzeitig im Zenit stehen und das Licht der einen die Schatten auslöscht, welche die andere wirft. Eine kurze Spanne der Schattenlosigkeit, in der die Zeit stillzustehen scheint. Wenn dieser Augenblick eintritt, bleibe ich stehen, wo immer ich mich gerade befinde, und verschließe mir die Nasenlöcher gegen die Luft, denn wer kann wissen, was für Gespenster in solchem Augenblick ungebändigt umherschweifen?
An jenem Tag, da mein dritter Besucher eintraf, war die Luft merkwürdig warm – also, warm für Mulanoverhältnisse, meine ich natürlich –, beinahe so, als nähere sich eine Art Frühling. Die Eisoberfläche hatte eine hauchfeine Glasur bekommen, einen millimeterdünnen Schmelz, und ortsansässige Gespenster schwebten zu Tausenden knisternd und von einer ganz besonderen Erregtheit summend darüber.
Ich war an diesem Doppeltagmorgen zu einem weiten Streifzug aufgebrochen, hinüber zum Rand des Gletschers und halb an seiner trägflüssigen Flanke aufwärts, wobei ich mich einer Eispicke bediente, ganz wie ein prähistorischer Jäger. Am Gletscherhang gab es eine Höhle, die ich mochte. Sie war lang und niedrig, und ihre Wände begannen zinnoberrot zu brennen, wenn das Licht der zwei Sonnen scharf durch ihre Decke drang; und ganz an dem Ende der Höhle gab es eine spiralenförmige
Weitere Kostenlose Bücher