Zigeunerstern: Roman (German Edition)
man das Leben mit Würde und Mut zu bestehen habe, dass es aber unsere Hauptaufgabe sei, durchzuhalten und zu überleben, bis es uns möglich sein würde, ans Ziel unserer langen Pilgerschaft zu gelangen und in unsere Heimat zurückzukehren. Und über allem die Erkenntnis, dass das Universum uns feindlich gesonnen ist und dass wir alles in unserer Möglichkeit Stehende tun müssen, uns davor zu schützen.
Zunächst empfand ich wenig verwandtschaftliche Sympathie für jene wandernden Roma in ihren Zigeunerwagen, für diese in bunten Lumpen umherziehenden alten Gaukler und Kirchweih-Akrobaten, die über die Straße der mittelalterlichen Erde dahinzogen. Ich hatte den Eindruck, dass wir Heutige uns denn doch gewaltig von jenen Urahnen unterschieden, wir, die Söhne des weitgespannten Imperiums, wir, die in großen Städten wohnen und zwischen den Sternen umherfliegen. Diese Leute damals, das waren einfach nur so absurde folkloristische Kuriositäten, sie waren altmodisch und bizarr.
Doch dann kam die Nacht, in der mich mein Vater über die Steilwand des gewaltigen Mount Salvat zum Aussichtspunkt mitnahm, fünftausend Meter oberhalb der Stadt. Und dort, in dieser Luft, die so dünn war, dass sie mir in den Nasenlöchern brannte, wies er mir den Zigeunerstern am Himmel. Und dort erzählte er mir den letzten Teil der Geschichte. Und da fügte sich alles ineinander, und ich begriff schlagartig, dass ich und jene fernen alten Kalderash und Sinti und Lowara und Gitanos der alten zerstörten Erde eins waren, dass wir wahrhaftig von gleichem Blut und gleichem Geist sind, dass sie Bestandteil von mir sind, wie ich Teil von ihnen bin.
Nun endlich begriff ich die gestohlenen Hühner und die gestohlenen Äpfel in jenen lang vergangenen Zeiten der Wanderschaft. Ich begriff: Hunger tötet, und wir müssen weiterleben, müssen überleben, wenn wir an unser Ziel gelangen wollen, und wenn die Gaje uns die Nahrung vorenthalten, dann müssen wir uns eben dazu verhelfen. Jetzt verstand ich auch unsere Verachtung für die Gaje-Gesetze: Was konnten die Gesetze der Gaje denn für unser Volk schon anderes sein als ein Messer, das man uns an die Kehle drückte? Ich begriff und billigte die Lügereien und beiläufigen Betrügereien, fand es völlig richtig, dass wir sechs einander widersprechende Antworten auf jede indiskrete bohrende Frage der Gaje gaben, und war stolz darauf, dass sich mein Volk weigerte, auf irgendeine Weise von der Gaje-Welt aufgesogen, verschluckt zu werden. Der Gajo ist der Feind. In diesem Punkt gaben wir uns niemals irgendwelchen Täuschungen hin. Sie sind der uralte Gegner; und unser ganzes Bestreben muss sich darauf richten, sie zu überrunden, sie hinter uns zu lassen, nicht etwa darauf, eine Verschmelzung mit ihnen anzustreben. Denn so gewisslich, wie ein Süßwasserfluss sich in der salzigen See verliert und auflöst, würden wir für alle Zeit vergangen und ausgelöscht sein, wenn die Gaje uns erst einmal in sich aufgesogen hatten. Und dies waren die Lehren meines Vaters, als ich noch ein kleines Kind war.
3
Eines Nachmittags, ich war damals sieben Jahre alt, kam eine hübsche Dame in einer gelben Robe in unser Klassenzimmer, wo wir gerade darüber belehrt wurden, wie unser Kaiser den ganzen Tag und auch die ganzen Nächte hindurch schwer arbeitete, um jedem kleinen Jungen und jedem kleinen Mädchen im Reich zu einem schöneren Leben zu verhelfen. Die fremde Frau ließ ihren Blick rasch durch den Schulraum schweifen, dann zeigte sie mit dem Finger auf ein Halbdutzend der Kinder und sagte: »Du da, und du und du, du, und du, ihr kommt jetzt mit mir!« Ich war einer der Erwählten.
Wir traten ins Freie. Es war ein milder Tag, Dunst in der Luft, vor kurzem hatte es noch geregnet: die Blätter an den Bäumen blitzten wie poliert. In der Einfahrt wartete ein Wagen auf uns, ein langes, niedriges Stromlinienfahrzeug, metallisch-silbrig-schimmernd, das rote kometengeschwänzte Firmenemblem von Volstead Factors auf der Karosserie. {5} Ich sehe all das in meiner Erinnerung noch so deutlich vor mir, als wäre es vorgestern geschehen.
Ich war nicht besonders traurig darüber, dass ich aus der Schule fortgehen musste. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte sie sowieso nie besonders gemocht. Und dabei war ich der Sohn einer Lehrerin! Außerdem war mir der Unterrichtsstoff an jenem Tag als ausgesprochen blödsinnig erschienen: der arme dumme Kaiser, wie er sich da Tag und Nacht abstrampelte! Wenn er schon über so
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