Zigeunerstern: Roman (German Edition)
große Macht gebot, wieso hatte er denn dann keine Leute, die diese Arbeit für ihn erledigten? Man hatte uns sein Bild auf dem Schirm im Klassenzimmer gezeigt, das Bild eines kleinen zerbrechlichen Mannes, ausgetrocknet und uralt, der aussah, als könnte er jeden Augenblick tot umfallen. Das war damals der Dreizehnte Kaiser, und bemerkenswerterweise lebte er noch erstaunlich lange weiter, aber ich hegte jedenfalls ernsthafte Zweifel, dass ein dermaßen verwelkter und brüchig aussehender Mensch in der Lage sein könnte, auch nur auf sich selber aufzupassen, von der Schwerarbeit, die doch unbedingt damit verbunden sein musste, jedem kleinen Jungen und jedem kleinen Mädchen des ganzen Imperiums die ihnen zustehende Lebensqualität zu schenken, einmal ganz abgesehen. Die Schule, ich müsste sagen ›Schulung‹, erschien mir als ausgesprochener ›Gaje-Quatsch‹. Seht ihr, bereits damals begann ich damit, alles als Gaje-Quatsch abzutun, was mir nicht in meinen Kram passte. Aber in diesem Fall hatte ich wahrscheinlich recht. Allerdings habe ich dann im Verlauf meines Lebens gelernt und begriffen, dass nicht alles, was die Gaje tun, ohne Sinn ist, und dass nicht automatisch alles Sinnlose sofort auf einen Gajo-Ursprung zurückzuführen sein müsse.
Ich war der einzige Rom-Junge im Auto. Da war allerdings noch ein Rom-Mädchen, eine Freundin meiner Schwestern. Die übrigen vier Kinder waren Gaje. Das Rom-Mädchen war eine Sklavin, und wenigstens einer der Gaje-Jungen war auch Sklave, genau wie ich. Bei den anderen war ich mir nicht sicher. Es ist nämlich gar nicht so leicht zu unterscheiden, wer Sklave ist, und wer es nicht ist. Tatsächlich aber waren wir sechs allesamt aus der Klasse ausgewählt worden, weil wir Sklaven waren. Unser Mutterunternehmen durchlief damals gerade einen wirtschaftlichen Sparplan, also sollte ein gewisser Prozentsatz der Arbeitersklavenreserven aus dem Firmenbesitz abgestoßen und verkauft werden, insbesondere die jungen Sklaven, die noch in der Ausbildung waren, weil man bei diesen ja noch über Jahre hinweg nicht mit einem Ausgleich für die investierte Ausbildung durch Arbeitsausbeutung würde rechnen können. Also brachte man uns auf den Sklavenmarktplatz, damit wir dort möglichst rasch abgestoßen werden könnten. Nie würde ich unser Heim wiedersehen, niemals wieder meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern. Verloren war meine bescheidene Sammlung von Musik-Kuben, meine Geschichtenbücher und mein Spielzeug. Nie würde ich meinen Anteil an den Roma-Schätzen von der alten Erde bekommen, die es in unserem Hause gab. Aber man sagte mir kein Wort darüber, während man uns zum Versteigerungsplatz fuhr. Es gibt also doch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen moderner Sklaverei und der uralten. Eine sehr große Ähnlichkeit sogar.
In der Umkleidekabine des Auktionsplatzes wurde ich von oben bis unten inspiziert, sie betätschelten und beklopften mich an allen möglichen Körperstellen und ließen mich vor einer Art Scanner vorbeimarschieren. Keiner fragte mich, wie alt ich sei, welchen Namen ich trüge, oder sonst irgend etwas über mich. Ein Roboter stempelte meinen Arm; es brannte ein bisschen und hinterließ ein rotviolettes Mal.
»Inventarnummer siebenundneunzig«, hörte ich eine leicht raue Stimme gelangweilt sagen. »Kind, männlich.«
»Siebenundneunzig, vorwärts nach drinnen«, sagte eine andere Stimme. »Die Gruppe dort drüben.«
Es ging ziemlich rasch mit der Versteigerung, dort auf dem Sklavenmarkt von Vietorion. Für mich hatte das alles etwas Unwirkliches, Traumhaftes. Wenn ich jetzt an diesen Nachmittag zurückdenke, fühle ich wieder das dröhnende Rauschen in den Ohren, das mir manchmal in meinen Träumen widerfährt, und alle Bewegung ist so stark verlangsamt, dass die Dinge beinahe stillzustehen scheinen, und alles wirft starke Schlagschatten.
Wir standen auf einer kreisrunden Plattform unter einer grellen heißen Lichtkugel im Zentrum eines riesigen kahlen und zugigen Raumes, der aussah wie eine Lagerhalle. Wir wurden zu Hunderten gleichzeitig feilgeboten, die meisten waren Kinder, aber nicht alle. Einige waren schon recht alt, und ich empfand Mitleid mit ihnen. Wir waren alle nackt. Mir machte das nichts aus, doch einige andere versuchten sich erbarmenswürdig mit den Händen das Geschlecht zu bedecken, oder sie pressten die Arme über die Brust, als könnten sie sich so verstecken. Viel später, als ich begriffen hatte, wie solch eine
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