Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
gewesen, und man konnte ganze Nächte mit ihr durchdiskutieren. Neben
ihr saß ein kleines Mädchen mit schwarzem, glattem Haar. Die Kleine saß still, sie
hielt den Kopf gesenkt, und die anhaltende Bewegungslosigkeit ihres Körpers rührte
ihn. Was sie in diesem Moment, den Sarg der Adoptivmutter vor Augen, wohl dachte?
Oder hatte sie aufgehört zu denken? Ihre gebeugte Haltung erinnerte ihn an die eines
Lammes, das gleich zur Schlachtbank geführt wird.
Sabrinas
Leichnam war mit Rücksicht auf die Angehörigen zur Trauerfeier freigegeben worden,
würde aber anschließend zurück in die Rechtsmedizin transportiert werden. Die Urnenbeisetzung
würde erst dann stattfinden, wenn der Fall abgeschlossen war.
Aus den
Augenwinkeln registrierte Florian eine winkende Hand. Es war seine Mutter, die auf
sich aufmerksam machte, dankbar zwängte er sich zu ihr, an besetzten Stühlen vorbei,
in die hinterste Ecke, wo sie einen Stuhl für ihn freigehalten hatte. Überall erkannte
er Leute aus dem Tennisclub. Viele der Damen trugen Hut. Florian nickte in alle
Richtungen.
»Es sind
ja unwahrscheinlich viele Menschen hier«, raunte Marie-Louise ihm zu, nachdem er
Platz genommen hatte, und sagte: »Ich wusste gar nicht, dass sie so beliebt war,
aber es freut mich für sie … ein Trost für die Familie.«
Florian
starrte auf die Tafel, an der die Liederfolge angeschlagen war, und blätterte im
Gesangbuch. Kein einziges der Lieder, die gesungen werden sollten, war ihm bekannt.
Seit dem
vergangenen Abend fragte er sich, wo seine Katze Zicke sein mochte. Als er von der
Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er sie in der Wohnung nirgends entdeckt. Zunächst
war er davon ausgegangen, dass sie sich irgendwo in einem seiner Schränke oder unter
dem Bett versteckt hatte, aber schließlich war ihm klar geworden, dass es in der
Wohnung zu lange zu ruhig blieb. Schließlich hatte er panisch jeden Winkel nach
ihr abgesucht, aber er hatte sie nirgends gefunden. Dann hatte er registriert, dass
die Balkontür den ganzen Tag offen gestanden haben musste, und seither waren seine
Schuldgefühle und seine Unruhe stündlich gewachsen. Er hatte bei allen Nachbarn
geklingelt, doch niemand hatte sie gesehen. Irgendwo musste sie jetzt allein herumstreunen.
Sie war eine Wohnungskatze, kannte die Welt da draußen, die böse und gefährlich
war, nicht. Er hatte an die 100 Zettel mit einem Foto von ihr ausgedruckt, seine
Telefonnummer darunter vermerkt und die Zettel in einem Radius von vier Kilometern
rund um den Chlodwigplatz an Litfaßsäulen, Bäumen und Hauswänden aufgehängt, und
noch hatte er die Hoffnung, dass irgendjemand sie zurückbringen würde, nicht aufgegeben.
»Da vorn,
da sitzt Sam«, flüsterte seine Mutter.
Florians
Blick wanderte suchend zwischen vielen Rücken hindurch zur ersten Reihe, wo er an
Sams hünenhaften Schultern hängen blieb, die merklich auf und ab zuckten. Orgelspiel
erklang. Nach wenigen Minuten begrüßte der Pastor die Trauergäste und hielt eine
Rede, die die wichtigsten Stationen aus Sabrinas Leben zum Inhalt hatte, und die
Anwesenden lauschten andächtig. Florian hörte, dass sie behütet und glücklich aufgewachsen
war, mit Summa cum laude ihr Kunststudium abgeschlossen hatte, jedoch nie berufstätig
geworden war. Ihr Lebensglück habe sie in der eigenen Familie gefunden, betonte
der Pastor, vor allem, seit die Adoptivtochter ihr Leben bereichert habe. Sabrina
habe Ölbilder gemalt und hin und wieder auch eine Ausstellung gehabt. Florian war
das alles nicht unbekannt. Was er jedoch nicht gewusst hatte, war die Tatsache,
dass sie sich für traumatisierte Kindersoldaten engagiert hatte. Wie der Pastor
sagte, war sie Mitglied einer Kinderschutzorganisation gewesen, die sich schwerpunktmäßig
um Kindersoldaten aus dem Sudan, Uganda und Sierraleone gekümmert hatte, wo Kinder
zwangsrekrutiert wurden. Auch Kindern aus Haiti, die Anfang des Jahres 2010 beim
Erdbeben ihre Eltern verloren hatten, hatte Sabrina zu helfen versucht, indem sie
sich für ihre Unterbringung bei Familien vor Ort eingesetzt hatte.
Florian
überlegte, woher ihre Adoptivtochter stammen mochte, und er wunderte sich, dass
er seine Mutter noch nie danach gefragt hatte. Die Worte des Pastors versetzten
ihn mittlerweile immer mehr in einen schläfrigen Zustand, das Resultat einer weitgehend
schlaflosen Nacht. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass sich jedes einzelne Bild dieser
Trauerfeier glasklar in sein Gedächtnis brennen und ihn sein Leben lang
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