Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
hervor und öffnete
ihn. Das Kreuz schimmerte ihr matt entgegen, und die Armbanduhr glitzerte. Dele
schloss die Augen. Ein Seufzer kam über ihre Lippen, und wieder schämte sie sich.
Pippa hatte ihr Leben verloren, und sie saß hier und fürchtete um ihre Existenz.
Sie schnaubte in das Taschentuch und lehnte den Kopf an die Wand des Wohnwagens.
»Wenn ich heute nicht mit dir ausgegangen wäre …«
»… würdest
du jetzt wie Pippa tot vor dem Wohnwagen liegen«, vollendete Gino den Satz und stützte
den Kopf in beide Hände. Auf seinen braunen Augen lag ein milchiger Film. Völlig
unerwartet sprang er auf. »Vielleicht ist auch hier die Gasflasche falsch montiert
…« Er trat die Tür des Verschlags auf, hinter dem sich die Gasflasche befand. Alle
Zirkuswagen waren damit ausgerüstet. Rasch überprüfte er den Verschluss samt Schlauch.
»Und?«,
fragte Dele erschöpft.
»Alles in
Ordnung«, antwortete er, und seiner Stimme war die Erleichterung anzumerken. »Ich
drehe den Hahn aber besser ab.« Nach einem Moment setzte er sich wieder. Gino versuchte
ein Lächeln, und Dele sah ihn an. »Meinst du, sie war auf der Stelle tot?«
»Als die
Flasche explodierte?«
Sie nickte.
»Ich glaube
schon.«
Sie faltete
die Hände und sprach ein stummes Gebet, und er stellte eine Kerze auf den Tisch.
Irgendwann murmelte er: »Schlaf bei mir heute Nacht.«
Dele dachte
nach. Hatte sie eine Alternative? Es war ausgeschlossen, dass sie sich beim Zirkusdirektor
meldete und um Zuweisung in einen anderen Wohnwagen bat, jetzt, nachdem die Polizei
dagewesen war. »Danke«, sagte sie schließlich, und Gino verharrte reglos, die Augen
auf den Tisch gerichtet. Er war froh, das Privileg zu haben, allein in einem Wohnwagen
zu schlafen, er hatte es als Vertragsbestandteil ausgehandelt. »Es gibt zwei Betten
hier«, sagte er nach einer Weile und deutete mit dem Kopf zur gegenüberliegenden
Wand, wo Stockbetten angebracht waren.
»Gut.« Dele
schloss die Augen und wünschte sich, dies alles wäre nur ein böser Traum. Irgendwann
sagte sie: »Ich muss mich verstecken.«
»Warum?«
Verständnislos sah er sie an.
»Die Polizei
wird mit mir über Pippa sprechen wollen, ich habe schließlich mit ihr zusammen gewohnt.«
»Na und?«
Dele senkte
den Kopf.
»Was ist
los? Wo ist das Problem?«
Leise sagte
sie: »Ich habe keine Arbeitserlaubnis. Die, die ich vorgelegt habe, ist gefälscht.«
Freitag, 15. Juli, mittags
Gasexplosion in Zirkuswagen
fordert ein Todesopfer lautete die Schlagzeile im Kölner Blick .
Ein Foto des zerstörten Wohnwagens offenbarte das ganze Ausmaß des Unglücks. Im
Artikel hieß es, dass die Tote, eine 28jährige Spanierin namens Pippa Gonzales,
bei Roncalli als ›Mädchen für alles‹ gearbeitet habe. Möglicherweise sei
die Explosion nicht auf ein Unglück zurückzuführen, sondern durch die absichtliche
Manipulation einer Gasflasche erfolgt, was bedeuten würde, dass es sich um einen
Mord handele. Die Mitbewohnerin des Todesopfers, Dele Sanchi, eine junge Frau aus
Guatemala, eine Indigene, sei seit dem Unglückstag verschwunden und werde gesucht.
Sachdienliche Hinweise an die Kölner Polizei wurden erbeten.
Florian
legte die Zeitung aus der Hand und lehnte sich weit in seinem Bürostuhl zurück.
Guatemala. Das Land der Bäume in Zentralamerika, im Süden der Halbinsel Yucatan,
das er vor wenigen Jahren bereist hatte. Dessen riesige Maya-Tempel in Tikal ihn
nachhaltig beeindruckt hatten, Pyramiden, die die Baumwipfel des endlos wirkenden
Regenwaldes überragten. Die geheimnisvolle Atmosphäre dort, der Hauch einer fossil
anmutenden Geschichte, der ihn auf Schritt und Tritt angeweht hatte und auf jeder
Treppenstufe spürbar gewesen war. Florian dachte daran, dass in Guatemala mehr als
30 Jahre lang bis 1996 Bürgerkrieg geherrscht hatte, der Hunderttausende von Menschen
das Leben kostete, und während dessen die Nachfahren der Mayas, Indigenas genannt,
von der Militärdiktatur durch flächendeckende Bombardements so nachhaltig bekämpft
worden waren, dass es einem Genozid gleichkam.
Florian
sah aus dem Fenster. Was hatte die Guatemaltekin nach Köln verschlagen? Wieso und
mit welchen Mitteln war sie ausgerechnet hierher gekommen?
Der überwiegende
Teil der indigenen Bevölkerung war, soweit er wusste, nicht nur arm, sondern auch
ungebildet. Mehr als 50 % von ihnen waren Analphabeten. Zur Eigenversorgung bauten sie auf
kleinen Parzellen Mais oder Bohnen an oder schufteten für einen Hungerlohn auf
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