Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
aus Freude und Erschrecken in die Arme geschlossen,
und dann hatten sie sich geküsst.
Sie klammerte
sich an den Funken Hoffnung, dass Luz sich irgendwo versteckt hielt und nur eine
Gelegenheit abwartete, um zu ihr zu kommen.
Dele presste
die Augen zusammen, und plötzlich spürte sie, wie ihr Herz zu stolpern begann. Für
einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen, und sie zwang sich, tief durchzuatmen. Padre nuestro … Ihre Hand tastete nach dem hölzernen Kreuz auf ihrer Brust
und der Armbanduhr, die sie wie immer in einem Beutel unter ihrer Bluse trug. Die
Dinge gaben ihr Kraft und Sicherheit, und nicht nur sie. Sie lächelte. Auch Gino
war zu ihrem Schutzengel geworden.
Die laute
Stimme des Zeltmeisters dröhnte herüber und riss sie aus ihren Gedanken. Einen Moment
fragte sie sich, was die Hilfskräfte wohl diesmal verbrochen hatten, dann lehnte
sie müde den Kopf an die Wand und horchte auf die Stimme. In der Manege schien noch
kein frisches Sägemehl aufgeschüttet worden zu sein, und zwischen den Bänken lag
noch der Müll des Vorabends herum. Sie dachte an Pippa, hörte sie über den Dreck
fluchen, doch dann waren da wieder die Gedanken an Luz.
Wo war ihre
Tochter? War sie auf dem Weg zu ihr?
Das Bild
von dem Mann ging ihr durch den Kopf, der sie beide im Zirkus beobachtet hatte,
und wie so oft fragte sie sich, wo sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Sie sah
ihn vor sich, wie er im Zirkuszelt in der hinteren Reihe saß. Sie erinnerte sich
daran, wie er versucht hatte, die Wohnwagentür zu öffnen. Sie rief sich seine Statur
und die Form seines Kopfes vor Augen, seine Größe und sein ungefähres Gewicht, und
plötzlich kamen weitere Bilder aus der Tiefe ihres Bewusstseins, und die Bilder
waren glasklar.
Sie sah
ihn im Kaufhaus. Als sie ihre Sportschuhe gekauft hatte, war sie ihm begegnet, auch
er hatte welche anprobiert.
Ein weiteres
Bild, gestochen scharf. Er und Sam Delson, wie sie gemeinsam das Haus der Delsons
verließen.
Dele umfasste
das Kreuz, und in diesem Moment wusste sie, dass sie den Mann zweifelsfrei wiedererkennen
würde. Und er wusste es auch.
Sonnabend, 23. Juli, früher Nachmittag
Es war für diese Stunde ungewöhnlich
düster, die Luft lastete schwer auf allem. Unbeweglich hingen dunkle Gewitterwolken
am Himmel, und Florians Augen glitten prüfend über den Horizont. Das Zwitschern
der Vögel war verstummt, und selbst das Rauschen der Blätter an den Bäumen hatte
abrupt nachgelassen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Gewitter jeden Moment
losbrechen würde. Er versuchte abzuwägen, ob sie es noch schaffen würden, sich vor
dem Guss ins Trockene zu retten, oder ob es besser wäre, im Auto abzuwarten und
das Unwetter in Sicherheit über sich ergehen zu lassen.
Jana schielte
zu ihm herüber: »Komm, wenn wir einen Sprint einlegen, schaffen wir es.« Sie hatte
die Hand auf den Türöffner gelegt, bereit, ihn hoch zu ziehen und jeden Augenblick
loszurennen.
»Gut, dann
aber schnell.« Florian stieß die Autotür auf, und schon rannten sie nebeneinander
auf dem schmalen Fußweg zum Haus am See . Über ihren Köpfen zuckte der erste
Blitz, wenig später grollte dumpf ein Donnerschlag. Regentropfen platzten vom Himmel.
Dick und schwer fielen sie auf den sandigen Boden, drückten tiefe Dellen in das
Wasser des Sees und veranlassten die Schwäne dazu, am Uferrand Schutz zu suchen.
Jana keuchte,
und Florian spürte, wie seine Haare durchnässten und sein Hemd am Körper klebte.
Im Gasthaus standen sie prustend nebeneinander, schüttelten sich das Wasser aus
dem Haar und blickten sich in dem beinahe leeren Wirtsraum um.
Hamacher
war noch nicht da.
Der Rentner
war inzwischen aus der Türkei zurückgekehrt, und sie hatten sich für 14 Uhr im Haus
am See verabredet.
Florians
Gedanken wanderten zu Marko Rössner und Sylvia Gerlach, und er fragte sich, ob sie
inzwischen von der Staatsanwältin den Durchsuchungsbefehl erhalten hatten, und ob
die Mitarbeiter von Clark & Johnson ebenso wie Susan Gayle bereits vernommen
worden waren. Vielleicht hatten sie inzwischen auch die Identität des Mannes auf
den Fotos festgestellt. Rasch zog er sein Handy aus der Tasche und warf einen Blick
darauf, aber von der Kommissarin war noch keine Nachricht eingegangen.
Im Gastraum
waren nur drei Tische besetzt. Zwei ältere Frauen mit Dackel blickten schweigend
aus dem großen Glasfenster. Sie beobachteten, wie der Wind unerbittlich an Büschen
und Bäumen zerrte, und Florian kam es so vor, als
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