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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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richtigen Zeitpunkt
wählen mußte. Und wenn es wirklich zu schlimm wird, dachte Nancy, gehe ich einfach
ans Telefon und frage nach Vijay Patel – Polizeiinspektor, Polizeiwache Colaba.
    Aber Nancy war nie
im Osten gewesen. Sie wußte nicht, wo sie war. Sie hatte keine Ahnung.

[349]  12
    Die Ratten
    Vier Bäder
    In seinem
Schlafzimmer in Bombay saß Dr. Daruwalla, von Julias Armen umschlungen, schaudernd
auf seinem Bett. Er war deprimiert, weil die meisten Nachrichten auf dem Anrufbeantworter
ungelöste Probleme betrafen: Ranjits mürrische Beschwerden über die Frau des Zwergs;
Deepas Erwartungenbezüglich der möglichen Knochenlosigkeit einer Kindprostituierten;
Vinods Angst vor den Hunden aus dem ersten Stock; Pater Cecils Bestürzung darüber,
daß keiner der Jesuiten in St. Ignatius genau wußte, wann Dhars Zwillingsbruder
eintreffen würde; und der geldgierige Regisseur Balraj Gupta, der den neuen Inspector-Dhar-Film
mitten in der vom letzten Dhar-Film angeregten Mordserie anlaufen lassen wollte.
Natürlich war da auch noch die vertraute Stimme der Frau, die sich Mühe gab, wie
ein Mann zu klingen, und die die Einzelheiten von Lowjis Tod durch eine Autobombe
genüßlich wiederholte. Die Botschaft war deutlich, hatte durch die exzessive Wiederholung
jedoch etwas an Schärfe verloren. Und Detective Patels kühle Mitteilung, er habe
eine Privatangelegenheit zu besprechen, hörte sich für den Doktor ebenfalls recht
deutlich an. Auch wenn Dr. Daruwalla nicht genau wußte, worum es ging – der Kommissar
jedenfalls schien einen Entschluß gefaßt zu haben. Doch all das war eigentlich wenig
deprimierend im Vergleich zu Farrokhs Erinnerung an die dralle Blondine mit dem
schlimmen Fuß.
    »Liebchen«, flüsterte
Julia ihrem Mann zu. »Wir sollten [350]  John D. nicht so lange allein lassen. Denk
ein andermal über die Hippiefrau nach.«
    Um ihn aus seinem
Trancezustand zu reißen und ganz konkret an ihre Zuneigung zu erinnern, drückte
Julia Farrokh an sich. Sie umarmte ihn einfach, mehr oder minder im unteren Brustbereich,
knapp über seinem kleinen Bierbauch. Zu Julias Überraschung zuckte ihr Mann vor
Schmerz zusammen. Das scharfe Stechen in der Seite – es mußte eine Rippe gewesen
sein – erinnerte Dr. Daruwalla sofort an seinen Zusammenprall mit der zweiten Mrs.
Dogar in der Eingangshalle des Duckworth Club. Daraufhin erzählte Farrokh Julia
die Geschichte und fügte hinzu, daß der Körper dieser unfeinen Dame hart gewesen
sei wie eine Steinmauer.
    »Aber du hast doch
gesagt, daß du hingefallen bist«, wandte Julia ein. »Ich würde meinen, daß der Steinboden
daran schuld war, daß du dir weh getan hast.«
    »Nein! Es war diese
verdammte Frau. Ihr Körper ist hart wie Granit!« sagte Dr. Daruwalla. »Mr. Dogar
hat es auch umgehauen! Nur diese ungehobelte Frau ist stehen geblieben.«
    »Na ja, angeblich
soll sie ja ein Fitneßfan sein«, erwiderte Julia.
    »Sie stemmt sogar
Gewichte!« sagte Farrokh. Dann fiel ihm ein, daß ihn die zweite Mrs. Dogar an jemanden
erinnert hatte – sicher an einen alten Filmstar. Eines Abends würde er mit Hilfe
des Videorecorders schon dahinterkommen; in Bombay wie in Toronto hatte er so viele
Bänder mit alten Filmen, daß es ihm schwerfiel, sich zurückzuerinnern, wie er früher
ohne Videorecorder gelebt hatte.
    Farrokh seufzte,
und seine lädierte Rippe reagierte mit leichtem Stechen.
    »Ich reibe dich
mit Liniment ein, Liebchen«, sagte Julia.
    »Liniment ist für
Muskeln, aber dieses Weib hat meine Rippe erwischt«, beklagte sich der Doktor.
    [351]  Obwohl Julia
nach wie vor die Theorie bevorzugte, daß der Steinboden die Ursache für die Schmerzen
ihres Mannes war, ließ sie ihm seinen Willen. »Hat dich Mrs. Dogar denn mit der
Schulter oder mit dem Ellbogen erwischt?« fragte sie.
    »Du findest das
wahrscheinlich komisch«, gab Farrokh zurück, »aber ich schwöre dir, ich bin direkt
gegen ihren Busen gerannt.«
    »Dann ist es kein
Wunder, daß sie dir weh getan hat, Liebchen«, antwortete Julia. Ihrer Meinung nach
hatte die zweite Mrs. Dogar keinen Busen, der der Rede wert gewesen wäre.
    Dr. Daruwalla spürte
die Ungeduld seiner Frau; sie galt John D., allerdings weniger der Tatsache, daß
sie ihn auf dem Balkon allein gelassen hatte, als der, daß niemand den lieben Jungen
über die bevorstehende Ankunft seines Zwillingsbruders informiert hatte. Doch selbst
diese ungute Situation erschien dem Doktor belanglos – so unwesentlich wie der Busen
der zweiten

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