Zitadelle des Wächters
wenn man etwas erklären wollte, das andernfalls unerklärlich blieb. Das ist doch verständlich, oder?“
„Ja“, sagte Varian. „Seeleute berauschen sich immer noch an alten Erzählungen, Balladen und Shanties, die von fremdartigen Zeiten künden.“
„So ist es“, sagte Kartaphilos. „Die Macht der Mythen ist nie vergessen worden, selbst von solchen Leuten nicht, die sich weit über solchen Dingen stehend dünken. In späteren Zeiten benutzten die Menschen Mythen, um die inneren Geheimnisse des Verstands zu erklären – als eine Metapher für die Substanz menschlicher Begierden und Ängste. Der Glaube hält sich immer noch – trotz der Absurdität einiger naturwissenschaftlicher Details in den alten Legenden –, daß in all diesen Geschichten ein Stückchen Wahrheit steckt. Wahrheiten, die Kunde von den elementaren Aspekten menschlichen Verhaltens geben. Durch eine Sage kann ein Mensch unter Umständen lernen, warum er so ist, wie er ist, und warum er das tut, was er tut.“
„Ich glaube, mir ist jetzt einiges klarer geworden“, sagte Tessa. „Aber was hat das mit dem Wächter zu tun?“
„Auch hier könnte ich falsch liegen, aber allem Anschein nach hat der Wächter, nachdem ihm so lange der Kontakt mit den Menschen gefehlt hat, die Fähigkeit verloren, frei mit seinen Schöpfern kommunizieren zu können. Den Grund für diese Fehlfunktion kenne ich leider nicht. Vielleicht können wir das gesamte Problem lösen, wenn wir eine Antwort darauf gefunden haben. Meiner Meinung nach hat der Wächter versucht, etwas über das menschliche Verhalten zu lernen, indem er euch in mythische Szenarios versetzt hat, indem er euch gezwungen hat, solche Entscheidungen zu treffen, wie das die Menschen der Antike schon tun mußten. Da der Wächter ausgezeichnete Kenntnisse über alle Mythen hat, ist ihm damit ein ‚Leitfaden’ an die Hand gegeben – also ein Themenkatalog menschlicher Verhaltensweisen –, und möglicherweise vergleicht er eure Reaktionen mit denen der mythischen Originalcharaktere.“
„Das hört sich nicht schlecht an“, sagte Tessa, „aber damit ist noch immer nicht erklärt, warum der Wächter so handelt.“
Kartaphilos konnte nur bedauernd die Schulter heben. „Das weiß ich auch nicht. Ich kann da nur Vermutungen anstellen. Eines können wir aber mit Sicherheit festhalten: Die Mythen sind vom Wächter nur als Metapher für etwas weitaus Realeres, weitaus Wichtigeres zu verstehen …“
„Was, zum Krell noch mal, ist eine Metapher?“ wollte Stoor wissen. Er ballte die Fäuste und öffnete sie wieder, während er – ganz ohne Zweifel irritiert – mit langen Schritten durch das Zimmer stapfte.
Da ihm aber niemand antwortete, schien er die Frage plötzlich auch nicht mehr so wichtig zu nehmen. Er wußte ohnehin, daß die genaue Definition dieses Fremdworts sicher nicht der Schlüssel für die Flucht aus der Zitadelle sein würde. Damit verkümmerte seine Frage zu einer rein rhetorischen Äußerung, zu einer bloßen Stellungnahme von Seiten Stoors.
„Ach, verflucht, was sitzen wir eigentlich noch hier herum und reden?“ fuhr Stoor nach einer Weile fort. „Warum setzen wir nicht das Ding in deinem Mund ein, um hier rauszukommen?“
Varian trat einen Schritt nach vorne. „Eigentlich hat Stoor recht. Wir sitzen hier schon seit einiger Zeit als Gefangene – dir wird es wohl nicht als sehr lange vorkommen, aber uns hat es gereicht.“
„Ganz besonders dann, wenn man nicht die geringste Ahnung hat, wann es hier wieder hinausgeht“, fügte Tessa hinzu.
Kartaphilos antwortete nicht direkt, da er zuvor noch einige Möglichkeiten durchdenken mußte. „Ich verstehe ja euren Wunsch, hier hinaus zu wollen“, sagte er
Weitere Kostenlose Bücher