Zitadelle des Wächters
Das Leben von Menschen, ihre Erinnerungen und Hoffnungen, ihre Liebe und ihr Haß wurden im Zeitraum eines Lidschlags ausradiert. Aber immer noch wälzten sich die amöbengleichen Körper der beiden Armeen aufeinander zu. Zuerst noch zögernd, streckten sie Tentakel aus, berührten den Feind und zogen sie dann wieder zurück, nur um sie wieder erneut auszustrecken.
Im Zentrum des Ganzen lag die Zitadelle wie eine reife Pflaume da, die nur darauf wartet, gepflückt zu werden. Der Wächter verfolgte auf seinen Überwachungsanlagen die Auseinandersetzungen, nahm exakte Daten von den Bewegungen des Feindes auf und arbeitete Gegenstrategien aus.
Der Mittagshimmel wurde um ein Vielfaches heller, als die Schlacht mit der Wucht eines Sturmes vollends entbrannte. Beleuchtet von den aufblühenden Explosionen, die selbst noch die wabernde Sonne trübe erscheinen ließen, schufteten, rutschten und kämpften die Soldaten im Schweiße ihres Angesichts, den Geruch des stinkenden Fleisches ihrer gefallenen Kameraden in der Nase.
Fauchende Strahlen zerteilten den Himmel über der Zitadelle, schnitten Flugzeuge aus ihrer Bahn, die wie Heuschrecken in einer blutigen schwarzen Wolke vom Himmel stürzten. Die Schreie der Menschen vermischten sich mit dem krachenden Stöhnen von Metall. Stahl traf auf Stahl und verband sich zu einer donnernden, tödlichen Vereinigung, angetrieben von ersterbenden Muskeln und zerkochenden Hirnen. Als kröchen sie endlos aus dem weitab liegenden Meer, brandeten immer wieder neue dunkle Wellen der Riken heran, schnitten und verbissen sich in die Verteidigungsringe um die Zitadelle. Näher und näher rückten die Horden der Riken heran, krochen über den Teppich aus Leibern, verglühtem Metall und verstreuten, zerschmetterten Gebeinen. Kein Soldat konnte einen Stiefel auf den Boden setzen, ohne dabei den Schädel eines Kameraden zu zerstampfen oder gegen ein gezacktes Stück Metall aus einer verborgenen, leblosen Maschine zu stoßen.
Und immer noch trieb es die Heerscharen vorwärts, mit der Besinnungslosigkeit von wahrhaft Verzweifelten. Ideale verblaßten zu bloßen Erinnerungen. Das einzige, was noch eine Bedeutung besaß, war das schrecklich verzerrte Gesicht vor einem, angetrieben von einem außer Kontrolle geratenen Gehirn, das einen töten würde, falls man nicht als erster schoß. Die Erde erbebte, und der Himmel schrie auf, als die Armeen ihren Todestanz vorführten. Eingeordnetes Chaos, das vor der Festung klirrte und ratterte und sich nicht mehr um den ewigen Ablauf von Morgengrauen und Dämmerung kümmerte.
Schweigend zeichnete sich die Zitadelle vor dem blutroten Himmel ab und betrachtete diese Begegnung, als wäre sie ein Tourist auf der Durchreise. Aber hinter ihren Mauern wurden Taktiken ausgetüftelt, Schwachstellen mit Stützen versehen und Wahrscheinlichkeitsberechnungen erstellt. Nach dem fünften Tag unternahm der Wächter die ersten Versuche, die Truppen im Norden zu erreichen. Ohne Verstärkung würde der Verteidigungsring zusammenbrechen und die Zitadelle genommen werden. Die Atmosphäre über dem Schlachtfeld hatte sich in einen Mahlstrom von elektromagnetischer Raserei verwandelt. Kein Funksignal würde je ein solches Gewirr durchdringen können, und auch die Himmelsspione, die Satelliten, waren sämtlich vom Himmel über diesem Teil des Kontinents entschwunden. Man hatte die Zitadelle so vollständig isoliert und von der Umwelt entfremdet, als wäre ein Leichentuch über ihre Gipfel geworfen worden. So blieben allein die kleinen Stoßtrupps, in der Hoffnung ausgesandt, ein paar von
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